Wednesday, November 26, 2008

Störsignal



Das Telefon klingelte. Ich schloss das Fenster, stellte die Klimaanlage an, drängte die mit Telefonkarten behängten Hände der Händler zurück, schottete mich ab. Die Fensterscheibe surrte nach oben und trennte den schweren, bleihaltigen, von den zahlreichen Mopedtaxis herausgerotzten blauen Dunst, von der kühlen, klaren Luft des Fahrzeuginnenraums. Ein sauberer Schnitt, wie durch einen Käse, um ihn von dem vergammelten Schimmel zu befreien. Mit dem Dunst wich das kakophonische Gemisch aus Motorengeheule, dem Anpreisen von Waren, Musik aus Autoradios und den Boxen der CD-Händler, langsam, weich ausgeblendet, bis alle und alles auf unnatürlicher Weise in einen dumpfen Raum verschwanden.

– „Hallo!“ – „Hallo!“ – „Ja hallo, wer ist dran?“ – „Hallo!“ – „Ich höre, wer spricht?“ – „Hallo!“ Tolles Gespräch, ich legte auf. Kurze Zeit später klingelte das Telefon wieder.
- „Hallo, wer spricht?“ – „Hallo“ –„ Mit wem hab ich die Ehre? Sprich!“ – „Suleiman?“
- „Nein, hier ist nicht….“ Aufgelegt. Kein „Ich hab mich verwählt“ oder so was, geschweige denn eine Entschuldigung.


Das Reservoir an Zeit in Benin scheint endlos. Kleinste Bewegungen werden in Restaurants oder auf der Post geduldig zelebriert oder die zehnte Zurückweisung auf dem Amt mit einer Frömmigkeit hingenommen, bei der selbst das Lamm vor seinem Henker längst rebelliert hätte. Was bedeutet auch schon die Zeitspanne eines Lebens im Diesseits wenn es um die Ewigkeit im Jenseits geht, in der, ist etwas schief gelaufen, kochende Blutströme auf einen warten.
Geht es aber darum sich an der Ampel einen Zeitvorteil von wenigen Nanosekunden herauszuarbeiten, wird gehupt, gedrängelt, gerempelt und gestritten. In die kleinsten Räume schlängeln sich die Mopeds, entschlossen und zielstrebig wie eine Ameisenstraße, vorbei an Taxis, Bettlern und Händlern. Am Ende der Reise ist derjenige, der besucht werden sollte, nicht zu Hause und die Kosten für Benzin ein Vielfaches Höher als die Einheit, die ein Telefonanruf gekostet hätte. Wieder klingelte das Telefon, diesmal verstummte es nach einem Klingeln. On m’a beepé, man hat mich angeflashed, angeklingelt, ein Signal gesendet mit der Bitte um Rückruf. Ich schaute auf das Display und sah die Nummer von Segun, einem Freund aus Lagos, der seit acht Jahren in Benin lebt. Ich wählte seine Nummer, bekam aber nur ein Störsignal zu hören, der Absturz des Telefons folgte.


Eine Nachrichtensendung auf Fon, der lokalen Sprache des südlichen Benins, veranlasste mich zu einem Senderwechsel. Auf Atlantique FM lief eine Quizshow. Der Moderator sprach mit tiefer, effektvoller Stimme in einem Duktus, wie man ihn in aller Welt in kommerziellen Radiosendungen zu sprechen pflegt. Ein Rückwärts gespieltes Lied sollte von dem Anrufer erraten werden, hätte er die Möglichkeit bekommen den einleitenden Smalltalk zu überstehen.
Ich konnte hören, dass er sich vorstellte, für den Namen war es aber zu leise, auch nach mehrmaligen Wiederholungen. Der Moderator schien gar nichts zu hören, hakte ungeduldig nach, forderte zum lauter sprechen auf, bat um Distanz zum Radio. Es half nichts, es dauerte nur wenige Sekunden und der Hörer war draußen, Musik. Die Gespräche liefen immer nach dem gleichen Muster ab, die Hörer stellten sich brav vor, der Radiosprecher wurde immer ungeduldiger und schmiss den Anrufer raus, die Musik, tanzbar, groovy, wurde lauter.
Nicht selten kommt es vor, dass beim Telefonieren nur die eine Seite Zugang zum Gesagten des Anderen bekommt, die Möglichkeit blieb aber unkommentiert. Man machte weiter wie bisher. Wieder Musik, diesmal länger, ein Stück von Polyrithmo wird ausgespielt, Salsa mit afrikanischen Rhythmen ließ mich durch die Stadt schweben, vorbei an einem Rindermarkt, an Wellblechhütten, entlang am Meer, der Lagune, auf der die Fischer ihre Netze aus den Pirogen werfen.
Der Moderator meldete sich schwungvoll mit einer Begrüßung eines Anrufers zurück, verstand die Antwort und konnte endlich seinen Smalltalk einleiten. Wie geht’s, Wie heißt du, von wo rufst du an, wie lautet dein Lieblingssender und so weiter. Offensichtlich hatte jemand die Panne bemerkt, das Telefonnetz, wie üblich. Was folgte war ein Knacken und Pfeifen in Tinitus verdächtigen Frequenzen, diesmal, wenn der Anrufer sprach. Der Moderator hörte davon nichts und plauderte munter weiter. Senderwechsel.

Thursday, October 09, 2008

Cagliari




Pierfranco läuft zum Geländer und wieder zurück, er streckt die Arme in die Höhe und ruft etwas auf Italienisch, dann versucht er, mir einen Pfirsich in den Mund zu stecken. „Die sind gut“, sagt er, „das sind meine.“ Er wirft mir den Pfirsich zu, den Schmutz reibe ich unter dem Tisch unauffällig an meinem Rock ab. Er beobachtet mich, während ich hinein beiße, nickt mir zu, als ich beginne zu kauen. Ich lächle mit vollem Mund und komme mir bescheuert dabei vor.
Als sei ihm bei meinem Anblick plötzlich etwas eingefallen, rennt Pierfranco von der Dachterrasse in die Küche. Kurz darauf kommt er mit einer Karaffe Eiskaffee und zwei Schnapsgläsern zurück. „Trink“, sagt er, „so guten Kaffee bekommst du nirgendwo.“ Nachdem er auch sich selbst eingeschenkt hat, läuft er wieder hinein, holt kühle Limonade und Kekse. Schließlich sitzt er mir gegenüber. Seine Beine zucken unter dem Tisch. „Ein Paradies, nicht wahr?“ Er zeigt auf die Pflanzen am Geländer, die Sofakissen an der Wand, die Korbliegen auf dem Boden. Er zeigt auf den Holzanbau, in dem nur ein Bett, ein Tisch und ein Ventilator stehen. „Hier oben bist du vollkommen ungestört“, sagt er. Mir läuft der Schweiß den Rücken, die Arme und das Gesicht hinunter. Seit zwei Stunden bin ich auf der Suche nach einem Zimmer. „Morgen kommt der Papst“, wiederholten die Vermieter und sahen mich in ihren halbgeöffneten Wohnungstüren an, als wäre ich gestört.
Pierfranco hingegen pfeift abwertend durch die Zähne, als ich auf die Straße hinunter schaue, die schon heute für Fahrzeuge gesperrt ist. „Diese ganze Aufregung“, sagt er, „für einen veralteten Kauz.“ Seine Zimmer sind bis auf die schwüle Bretterbude auf der Dachterrasse trotzdem ausgebucht. Er winkt mich ins Wohnzimmer. Vor einer Weltkarte bleibt er stehen und tippt mit dem Zeigefinger auf rote Fähnchen. „Ich bin überall gewesen, in Island, Amerika, Russland. In Deutschland war ich auch, in Berlin, bevor die Mauer fiel.“ Er fragt mich, wo genau ich herkomme. Ich tippe auf einen winzigen Fleck kurz vor Dänemark. Er zieht die Augenbrauen hoch. „Von einer Insel?“ Ich nicke. Eilig bückt er sich, zieht eine Schublade auf, holt ein rotes Fähnchen heraus und klebt es mitten in die Ostsee. Ich sehe ihn an. „Und“, fragt er, „wie ist es da?“ „Flach“, antworte ich, „und meistens kalt.“ „Gut.“ Er streicht langsam über das Fähnchen. „Wie heißt die Insel?“ Ich greife einen Träger von meinem Rucksack, der an der Wand lehnt, und ziehe ihn über meine Schulter. Während ich auch meinen anderen Arm durch die Schlaufe schiebe, hebt er erstaunt den Kopf.

Monday, October 06, 2008

Palaver im Verschlag



Kpawa, ein junges Dorf, durch aufgeschütteten Lateritboden an das pulsierende Adergeflecht der Wege und Pisten zu Atem gekommen, verbunden mit den Kapillaren und Venen aus Schotter und Asphalt, durch die kleine Pickups, verrostet, verzogen, unzählige Male reanimiert mit ihren Waren fließen, prall gefüllt mit Yamswurzeln, zusammengehalten durch eine stramm gezogene Plastikplane, die sich weit über das Fahrgestell hinauswölbt, angetrieben vom Herzschlag des Handels.
Das Dorf hat laufen gelernt, ist größer geworden, hat Land gegessen, hat die alten und neuen Früchte verdaut. Um das Dorf herum hat sich ein Fäkaliengürtel gebildet, ein Ring aus Sträuchern, ähnlich dem eines Stadtringes einer europäischen Großstadt. Latrinen gibt es keine.

Ich sitze im Innern dieses Rings auf einem Holzstuhl im Schatten eines Verschlags nicht weit von Issifous Hütte. Niemand bewegt sich. Selbst dem Wind ist es dafür zu heiß. Die Hitze drückt auf meinen Körper als fließe nicht Blut sondern Blei in meinen Adern. Ich versuche gar nicht erst mich zu bewegen und bin froh, dass ich nicht sprechen muss, dass die Stühle neben mir leer sind auf denen sonst die Männer des Dorfes ihr Palaver halten.
Vor mir liegen regungslos drei Hunde in einem schmalen Schattenstreifen, geworfen von einem überragenden Stück Wellblech eines Daches.
Sie heißen: „Wer weiß“ (Qui sait), „Oder nicht“ (Ou bien) und „ Sprich für dich“ (dis pour toi). Namen, die wie passende Antworten in einem möglichen Gespräch im Schatten der Mittagsglut liegen. Gemeinsam versuchen wir so wenig wie möglich Energie zu verbrennen.
Ich frage mich, ob ein zartes Stück Antilopenfleisch mit frischen Basilikumblättern die drei wohl aus der Reserve locken könnte.
„Wer weiß“ dreht unmerklich aber dennoch eindeutig sein linkes Ohr in meine Richtung, ohne den Kopf dafür zu heben, als habe er meinen Gedanken gelesen. Die Kinderschar, die normalerweise an einem klebt wie die Fliegen an den verdorbenen Cashewfrüchten, hat sich verflüchtigt, in die wenigen Schattenplätze des Dorfes. Sie liegen auf einem Sandhaufen, einem Tisch oder einem kühlen Zementgrab im Hof der Hütte ihrer Eltern, neben Ziegen und Geschwistern.



Der Platz vor mir, eine Art Verbindungsstück zum Marktplatz, bietet mir ein dankbares Lichtspiel. Hunderte von kleinen Lichtreflexen flimmern auf, in Plastiktüten, ihren Fetzen, Blechdosen und Aluminiumverpackungen der Medikamente vom Schwarzmarkt, wie in einem Meer aus Rubinen und Kristallen, bis der Wind sie mit in den Wald nimmt oder jemand ein Feuer macht. Das Dorf ist jung, in voller Entwicklungsblüte. Man kann es wachsen hören, wie den Bambus, der sich täglich ein Stück in Richtung Himmel reckt. Die Wachstumsrate, ob Wirtschaft oder Bevölkerung liegt hier wahrscheinlich bei tausend Prozent. Zeit für die Priester und Imame das Opium an die Haken ihrer Angeln aufzuspießen und das Seelenfischen zu beginnen. Zunächst der Bau einer Moschee, dann daneben ein Brunnen, Leben spendendes Wasser für die verlorenen Seelen. Der Brunnen versiegt, nicht tief genug gebohrt, es bleibt der Koran.



Dieudonné kommt mit Innocent vom Feld zurück ins Dorf, Hacke und Gewehr geschultert, der Geruch nach Erde und Schweiß erfüllt ihren Raum. Die Hitze scheint Innocent nicht viel auszumachen. Er grüßt die Männer, die Mütter, die Alten, uns, mit einem Lächeln, das sein Gesicht zum Leuchten bringt. Seine vier Schneidezähne sind im rechten Winkel aus seinem Kiefer herausgewachsen und zeigen auf den Verschlag, unter dem gleich das Palaver beginnt und auf den er sich schon freut. Ob er denn mit diesem selbstgebautem Gewehr heute schon ein gefährliches Eichhörnchen erlegt habe, frage ich ihn. Innocent versichert er habe mit diesem Gewehr, aus dem ein Wattebausch vorne herauslugte, in seinen besten Tagen einen Büffel getötet. Ich glaube ihm und freue mich auf weitere Jagdgeschichten. Auch Issifou ist wieder im Dorf. Er und Dieuxdonné scherzen mit Issifous Hausmädchen Malaboue, die Essen für uns zubereitet, Peuhlkäse mit Reis, versprechen ihr eine Heirat als zweite Frau mit mir, dem Weißen. Malaboue heißt soviel wie: „Was hab ich getan?“ Ich frage mich, was wer für diesen Namen getan hat, frage später nach, im Verschlag, unter dem die Männer nach der Feldarbeit so gerne sitzen und bekomme Antwort.

Tuesday, September 16, 2008


Tansania unter Strom.

Gestern bei der ersten tansanischen Lesebühne fiel beim ersten Vorleser der Strom aus, die Show wurde dann im Schweinwerferlicht fortgesetzt. Den Strom lieferten zwei Autos mit laufenden Motoren.


Unerfreulich ist, dass das Clove Hotel mein Zimmer schon vergeben hat, ich hätte es nochmal bestätigen müssen, erfahre ich von der Managerin. Sie verweist mich ins Kiponda, was nur 20 $ die Nacht kostet und mir auch ausreichend scheint. Dann zu göttlichem Essen bei einer dänischen Ärztin, Leonie hat eine bezaubernde, ungefähr 10jährige Tochter. Die Hausherrin, die ihren Abschied feiert, weil sie zurück nach Aarhus fliegt, segelt leidenschaftlich gern, an einem Boot aus Zement arbeiten sie seit 30 Jahren, bald wird es fertig sein. In Sansibar gab es 10 Jahre lang einen Armenarzt, erzählt sie, auch Europäer, der nahm nur von den Reichen Geld und behandelte die Armen umsonst. Dann hat er betrunken rumgebrüllt und den hiesigen Regierungschef beschimpft, er ist sofort ausgewiesen worden.


Später durch die dunkle, von Generatorengebrumm erfüllte Stadt. Der seit Wochen andauernde Stromausfall ist durch die Beschädigung eines Unterwasserkabels von Dar Es Salaam verursacht und niemand weiß, wie lange er noch anhalten wird. Das Gefühl ist, es passiert gar nichts. Im Hotelzimmer ist es mit dem Deckenventilator einigermaßen auszuhalten, liege in Unterhose unterm Moskitonetz. Wie ich aber, wenn um 22 Uhr der Generator abgeschaltet wird, schwitzend die Nacht überstehen werde, das steht auf einem anderen Blatt.
Wie lange ich manchmal brauche, bis das Offensichtliche und Naheliegende in meinem Kopf zur genialen Idee wird: Natürlich über den Stromausfall, Ursachen, Konsequenzen, voraussichtliche Dauer usw. berichten, dazu noch schöne Fotos der nächtlichen Lichtszenen, also morgen frisch ans Werk, Schreiberling!

Schlafe wider Erwarten fabelhaft, morgens geht für eine halbe Stunde der Strom an, nach einer Woche ist auch mein Magen-Darm-Trakt wieder in Ordnung, was für eine Freude zu leben!

Ich treffe Leonie Schollmeyer. Manchmal fragen sie Freunde oder Verwandte: „Ihr habt häufig Stromausfall?“ „Nein“, lacht sie dann, „Wir haben nur einen, und den seit vier Wochen!“ Sie ist eine der deutschen Mitarbeiter der Dhow Countries Music Academy, die am Hafen der Insel in einer arabischen Villa residiert. Trommeln, Gitarren, Klavier und Geigen klingen durch den kühlen Innenhof, und das Dröhnen eines Generators.

Das nun defekte Stromkabel führt durch den Indischen Ozean von Ras Kilomoni über das Festland von Tansania zum sansibarischen Ras Fumba. Hakon Hamre, norwegischer Ingenieur, der von den tansanischen Behörden zu Hilfe gerufen wurde, äußerte sich nach Besichtigung der Anlagen auf Sansibar: „Ich kann nicht sagen, wann der Strom wieder fließt, aber wir erwarten, dass die Arbeiten bis zu drei Monate dauern, weil das Problem sehr speziell ist.“ Er führt das Versagen des Kabels auf eine Überspannung zurück, die an dem Schicksalstag als Folge des Zusammenbruchs des tansanischen Stromnetzes auftrat. Die Meldungen der tansanischen Presse über den „Zanzibar power blues“ sind verwirrend, das Kabel sei explodiert, die Kühlflüssigkeit für die Leitung werde nach Frankreich geschickt, um dort getestet zu werden, bevor sie das Öl für ein neues Kabel verwenden, und das obwohl dieses Öl seit 28 Jahren erfolgreich ein Kabel in Dar Es Salaam schützt. Sicher ist jedenfalls: Es gibt keinen Strom und niemand weiß, wann er zurückkommt. Hotels und kleine Fabriken hätten schließen müssen, 30000 Personen seien durch die Stromsperre arbeitslos geworden. Diese Zahlen sind wohl schwer zu bestätigen in einem Land, in dem sowieso die meisten arbeitslos sind. Zweifellos trifft die fehlende Energie die Fischer am stärksten, die große Meerestiere gar nicht mehr verkauft bekommen: Was man nicht am selben Tag verzehren kann, würde mangels Kühlung unweigerlich verderben.

Eine Spanierin, die in ein Hotel unweit der Stadt betreibt, nennt den Stromausfall einen „Alptraum“, das Angebot der Restaurants ist eingeschränkt, die Wasserpreise sind auf 1000 Schilling für die 20-Liter-Flasche gestiegen. Die Preise für Wasser, Benzin und Diesel haben sich fast verdoppelt, Generatoren gibt es gar nicht mehr zu kaufen, weder hier noch in der drei Stunden mit der Fähre entfernten Hauptstadt Dar Es Salaam.

Nassor Rajubu Dachi ist Direktor der örtlichen Filiale der FBME Bank, und natürlich darf er nicht über wirtschaftliche Auswirkungen auf sein Geschäft sprechen und sich auch nicht fotografieren lassen. Aber über seine private Situation gibt er gern Auskunft. Er kauft Benzin für den Generator der Nachbarn und bekommt deshalb von ihnen Strom. Dass sich Nachbarn durch diese Situation näher kommen, sei eine gute Sache. Schließlich singt er noch ein Loblied auf die Regierung, die alle Generatoren aus ihren Büros für die Wasserquellen zur Verfügung gestellt hat.

Mücke Quinckhardt, Direktorin der Musikschule, ist skeptisch über diese schnelle unbürokratische Hilfe. Die Hamburgerin mit hugenottischen Wurzeln kennt Sansibar seit 1989: „Dass man Stunden und Tage keinen Strom hat, ist normal. Aber über einen Monat?“ Noch nach einigen Tagen dachten sie, dass es bald vorbei sein müsste.
In der Akademie erlernen einheimische Schüler traditionelle Musik. Dort haben sie zuerst ihren Arbeitsalltag umgestellt, Zeitung gelesen, statt sich im Internet zu informieren, die Ablagen wurden aufgeräumt und alles erledigt, wozu man keinen Strom benötigt. Mit ihrem Laptop konnte sie, wenn der Akku aufgeladen war, drei Stunden Texte und Protokolle schreiben. Nun gehöre zur täglichen Routine, zwei Stunden in einem Stonetown Café zu sitzen, um das Handy und den Laptop aufzuladen, ins Internet zu gehen und dabei für 1500 Schilling Kaffee zu trinken. Die Gesprächskultur ändere sich entscheidend, mit den schwedischen Paar aus der Nähe, mit dem sie nie gesprochen habe, unterhielt sie sich nun stundenlang über Strom und Wasser. Überhaupt die fruchtbaren Gespräche, auch in ihrer Schule: „Bemerkenswert, wie sich die Kommunikation verbessert hat.“ Es gebe so Stories, das Kabel sei vor 30 Jahren gelegt worden und habe eine maximale Lebenszeit von 30 Jahren, aber keinerlei Vorkehrungen seien getroffen worden, keine Ersatzteile standen bereit. Früher gab es hier für jedes Stadtviertel Generatoren, die wurden alle abgebaut und verkauft.

Der Reiseführer schwärmt über die größte Stadt von Sansibar: „Die Gassen von Stone Town strahlen Ruhe und Gelassenheit aus, und manchmal, so scheint es, bleibt die Zeit stehen. Jegliche Hektik und der Stress von zu Hause geraten für eine Zeit in Vergessenheit.“ Von wegen, die Stadt brummt an jeder Ecke, kein Laden, kein Hotel, keine Bank und kein Restaurant kommt gegenwärtig ohne Dieselgenerator aus. David Livingstone nannte die Stadt verächtlich „Stinkibar“: „Der nächtliche Gestank ist so krass, dass man sich daraus ein Stück schneiden könnte, um damit den eigenen Garten zu düngen.“ Die Kanalisation hat diese Zustände längst gebessert, und doch könnte man die Stadt heute wieder so nennen. Nur ist es heute der Gestank der Generatoren.

Befrage noch Farina (11) darüber, was sie am Stromausfall stört: Dass man morgens nichts Warmes haben kann. Man muss das Wasser mit der Hand schöpfen, der Lärm der Generatoren, dass man nichts mehr lesen kann. Schule fällt nicht aus, weil sowieso Ferien sind. Aber am ersten Tag des Stromausfalls hatten sie Prüfungen und die Klasse war am Generator und der machte einen Höllenlärm. Dass man nichts Kaltes kriegt, kein Eis, ohne das Doppelte zu zahlen. Auch Zalia (10) erinnert sich an den Beginn, da mussten sie eine 4-Liter-Box Eis aufessen, danach war ihr schlecht. Dass man abends in der Dunkelheit stolpert, gefällt den Kindern ebenfalls nicht. Aber auch Positives erkennt Farina im Energiemangel: „Es gibt mehr Kommunikation: Hier hat jeder eine große Mauer um sein Haus, jetzt heißt es: Wo lädst du Dein Handy auf? Hast du Wasser? Kann ich bei dir mein Handy aufladen?“ Am meisten schmerzt sie, dass sie keine von den 60 DVDs angucken kann, die sie aus Deutschland mitgebracht hat.

Ich esse wieder im Malindi, dort kennen sie schon den einzigen Mzulu und bringen mir dasselbe wie gestern. Während die Einheimischen die Gewürzrinde und Kerne alle neben die Teller auf die Wachstuchdecken drapieren, esse ich alles auf. Merke beim vergeblichen Versuch eines Mittagsschlafes, wie eine neue Durchfall-Welle vom Magen in die unteren Eingeweide gluckert.

Später habe ich das Glück des Schlenderers, Höhepunkt meiner Power-Blues-Recherche: Treffe auf eine voll in Betrieb befindliche Generatorenwerkstatt, bei der ich Dank meiner Videokamera jede Menge O-Töne aufnehmen kann. Wirklich begeistert sind die Betreiber, ein Brüderpaar, nicht von den Veränderungen durch den Stromausfall: Zweimal ist schon bei ihnen eingebrochen worden. Ob sie sich wünschen, dass der Stromausfall anhält? Sie lachen, das ist auch eine Antwort.

Im Hotel buche ich Hals über Kopf die Fahrt für morgen um 8 nach Bwejuu an der Ostküste. Der Hotelmanager behauptet, der Chef von Tansania habe versichert, heute oder spätestes morgen sei der Stromausfall vorbei. Hoffe sehr, dass da Gott vor sei. Meine ganzen Recherchen, alles für’n Arsch?

Nachts sitze ich auf der Terrasse des Africa House mit einem Pärchen, er Physiker aus München, sie eine Abiturientin aus Reinickendorf, die in Süd-Tansania volontiert hat, und einem Steuer-Entwicklungshelfer aus Hanau an einem Tisch. Hanau, nenne man auch die Stadt des goldenen Schmuckes. Noch nie gehört. Hier auf Sansibar gebe es keine Tribalism, die Anspruchshaltung allgemein in Tansania, die Korruption sei hier geringer als in Kenia. Man stimmt mir zu, dass Sansibar gegen Helgoland ein schlechter Tausch war. Was bin ich heute rumgerannt, aber gut war’s.

Abfahrt ½ 9, die Fahrt nach Bwejuu im Kleinbus kostet 12000 Schilling, 10 $, mit mir im Bus sind noch ein holländisches weibliches Pärchen und drei Einheimische. Es handelt sich um eines der vielen in China ausrangierten Fahrzeuge, etliche auf den Straßen haben noch die chinesischen Werbeschriften auflackiert.
Bald geht es durch die ärmeren Vororte, dort sind keine Generatoren mehr zu sehen. Ein großer Markt, Zebus, ein Friedhof, Palmwälder, Busch. Wenn gehupt wird, müssen die Radfahrer Platz machen und von der Straße auf den Seitenstreifen. Schilder und Fahrbahnbuckel erzwingen langsames Fahren, als ich mich gerade frage, welche Tiere hier die Fahrbahn kreuzen, Krokodile? Nilpferde? Auerochsen? sehe ich die süßen Affen in freier Wildbahn, wenn man das hier in der Nähe der Straße so nennen kann.
Einen Africafe, wie der allgemein verabreichte lösliche Kaffee hier heißt, nehme ich im gastronomischen Zentrum der Evergreen Bungalows zu mir. Hier im Paradies werde ich also 24 Stunden verbringen, lesend, schreibend, hoffentlich joggend, und trotzdem fragt es in mir: Was soll ich hier?

Später liege ich in der Sonne und lese Kapuścińskis „Afrikanisches Fieber“ zu Ende, was für ein herrliches Buch und schade, dass ich es nun ausgelesen habe. Regen und Sturm, immerhin habe ich wohl genug Sonne abbekommen. Ein dubioser Jimmy will 10000 Schilling Deposit, um Benzin für die morgige Fahrt zurück zu kaufen, sein vernarbter Kumpel im Blaumann ist genauso wenig Vertrauen erweckend, zu dumm darf Abzockerei nicht eingefädelt werden.
Im Gegensatz zu gestern gelingt mir in meiner Palmhütte der Nachmittagsschlaf. Das Bewusstsein zu schlafen, erfüllt mich mit so unbändigem, alles umfassendem Glück, dass ich mich an etwas Ähnliches überhaupt nicht erinnern kann.

Die Nacht in Bwejuu besteht aus einer zum Teil aberwitzigen Folge von Malaria-Moskito-Angriffen und Verwicklungen in das bescheuerte Moskito-Netz. Lese GALORE vom April zu Ende, ein Interview mit Maxim Biller, in dem er behauptet, intelligente deutsche Frauen liebten guten Sex, ansonsten stellt er sich als komplettes Arschloch dar, arrogant und langweilig. Ob er das absichtlich macht? Das Heft trotz Strunk-Interview dünn, voller Fehler („Sommer vom Balkon“), inhaltlich und stilistisch. Die Nadeln, mit denen sie das Heft zusammen nähen, sind wohl etwas heiß.

Tuesday, September 09, 2008

Über Entdecker und Sodabi


Einer der drei Männer hat eine Hacke geschultert, der Stil grob geschnitzt, das Eisen leicht wellig. Kein Relikt aus der Bronzezeit, sondern wichtigstes Werkzeug auf dem Feld. Neben ihm auf gleicher Höhe, vielleicht sein Bruder, wirft die einzige Glühbirne der Nacht harte Schatten auf das von Sonne und Arbeit gegerbte Gesicht. An der Spitze führt der Vater oder Chef seines Viertels das Begrüßungsritual an, auf das die kleine Gefolgschaft rhythmisch einstimmt.
– Sei gegrüßt. - Ja sei gegrüßt. – Wie geht’s der Familie? – Ja, der Familie geht’s gut. – Der Familie, ihr geht’s gut? – Ja, und die Gesundheit, was macht die Gesundheit? – Gut, was machen die Kinder? –Ja gut, der Frau geht’s gut? – Was macht das Feld? - Ja das Feld, es geht.- Und die Mutter? – Ja, der Bruder? – Vater? – Oma? – Die Nichte? – Der Cous…? – Hm! –Hm! Die Sätze werden kürzer, zu Halbsätzen, Worte folgen, ziehen sich zurück in den Gaumen und verenden in langsam leiser werdendes Summen auf den Lippen. Minuten vergehen. Ich versuche mich zu konzentrieren, um das Ende der Geschichte nicht zu verpassen, die Issifou gleich weiter erzählen wird, wenn er mit der Begrüßung fertig ist.

Hinter mir liegt ein langer Tag, eine lange Fahrt über rote Lateritböden. Staub, aufgewirbelt von unserem Wagen, lang und dicht wie die Kondensstreifen der Flugzeuge, legt sich auf die ausgetrockneten Flussbetten, in die Spalten der vor Trockenheit aufgerissenen Erde oder die Kinder auf ihrem Schulweg. Im Dorf angekommen gehört es zum guten Ton kleine Geschenke mitzubringen. Batterien, Zigaretten, Stifte, ein Radio, Fotos vom letzten Mal.
Das Lachen von Bar Forensi, dem Dorfbegründer, explodiert in den Schatten des Baobabbaums, unsere Köpfe berühren sich jeweils zwei mal auf der gegenüberliegenden Seite der Stirn, zum Dank für die Flasche Gin, die hier nicht nur von den Geistern geschätzt wird. Den Gästen gebührend ließ Bar Forensi erfreut zwei Gläser kommen, Wassergläser, schenkte den auf 30 Grad temperierten Gin randvoll ein, reichte uns die Gläser. Das hatten wir nicht bedacht, schauten in Bars leuchtendes Gesicht, in seine vor Freude über die Gäste glühenden Augen. Der Gin brannte an unseren Kehlen entlang bei 43 Grad Außentemperatur, die Hitze legte sich wie eine Glocke schützend über uns, lockerte die Zungen, bereit für eine Tour durchs Dorf, zur Begrüßung, zum Einchecken in unsere kleine Lehmhütte, die man für uns geräumt hatte.

Bar Forensi trägt eine lilafarbene Baseballjacke, eine zerfranste Bermudashorts und eine traditionelle, nach oben konisch zu laufende Mütze, ähnlich die einer Zipfelmütze, nur ohne Zipfel, ebenfalls lilafarben. Er folgte vor einigen Jahren einer Schneise, die für eine Straße in den Busch geschlagen wurde, verbrannte alle ihm im Weg stehenden Bäume für einen Acker, gepflügt mit einer einfachen Hacke, um die begehrten Yamswurzeln anzupflanzen, die die Hitze lieben wie ein Vulkan seine Lavaströme. Es kamen Dendi, Fulbe, Haussa, Fongbe als Christen, Moslems oder Animisten, sie leben in ihren Vierteln, friedlich, als Bauern, solange der Vorrat reicht. Man versteht sich, ohne auf eine gemeinsame Sprache zurückgreifen zu können. Nur ihre Kinder, sie spielen mit den Sprachen, als seien es ihre leeren Fahrradmäntel, die sie mit Stöcken durch das Dorf jagen. Es ist mein Freund, der Geograph, der sich für diese Bevölkerungsbewegungen interessiert, den ich hierhin begleitet habe.


Der Sodabi, ein aus Palmen gewonnener Schnaps, scharf wie eine Rasierklinge und klar wie der Instinkt einer Hyäne vor seiner Beute, fließt in das kleine Glas, aus der Flasche ohne Etikett, macht die Runde, zu dem Mann mit der Hacke, seinem vielleicht Bruder, zum Chef oder Vater, zu uns. Auf die Besucher, auf die Familie, auf das Feld, den Reichtum, das Neugeborene, das Glück, die Fruchtbarkeit, die Ahnen. Und jedes Mal, bevor sich der Sodabi den Weg in die Untiefen des Körpers freibrennt werden ein paar Tropfen auf die Erde gegossen, als Tribut für die Geister, den Fetischen, den Marabous.
Issifou, vor dessen Haus wir sitzen, begrüßt noch den einen oder anderen Ankömmling, hatte den Faden seiner Geschichte längst verloren, was keiner von uns bemerkte und erzählt nun von einer Radiosendung, in der von einem Beniner Profifußballer berichtet wurde, der seine Karriere aufgeben musste, als er unter Schmerzen feststellte, er habe Glasscherben in seinem Knie. Eifersüchtige Verwandte aus seinem Heimatdorf, mit den Ahnen im Bunde, hätten ihm das zugefügt. Raunen, Mitgefühl, man sei nirgends sicher, was er wohl gemacht habe. Ob er nicht einfach nur schlecht gespielt habe, wollten wir wissen. Gelächter. Issifou kannte das schon von uns. Ein Spiel zwischen ihm, dem Assistenten des Geographen und dem Patron selber. Unfassbar, dass wir so etwas denken können. Nur die Weißen können so ungläubig sein. Bis spät in die Nacht geht das so weiter, im Licht der nackten Glühbirne, unter dem Singen der Zikaden, dem Quietschen des Keilriemens der Maismühle, dem Krächzen des Radios aus dem Dendi- oder Haussaviertel, über Pulver welches unverwundbar oder unsichtbar macht, über Geldverdoppler oder Charlatane.

Sunday, July 20, 2008

Jerusalem

Wenn ich früher in den Nachrichten von Jerusalem hörte, dann habe ich es mir als weite Fläche vorgestellt, in sich hier und da etwas Wichtiges befindet, die komprimierte Kulturgeschichte der Welt, Heiligtümer, Streitobjekte. Jerusalem war sicher tatsächlich einmal größer gewesen, es schrumpft unaufhörlich. Große, aber leise Bulldozer müssen es sein, die Nacht für Nacht unbemerkt an den Stadtmauern ansetzen und die Altstadt immer enger zusammenschieben. Die Energie potenziert sich, konzentriert sich auf einen immer kleiner, aber dichter werdenden Punkt, einen glühenden Weltnabel. Als ich ihn betrat, wurde ich zum Meteoriten, der, in die Atmosphäre eingetreten, fortan verglühte. In der Hand hielt ich eine Karte, die mir die Altstadt in 3D verdeutlichte. Ich absolvierte ungewollt alles in einer halben Stunde, armenisches Viertel, christliches Viertel, jüdisches Viertel, gleich hatte ich, aus Versehen, denn ich war mir dessen nicht schnell genug bewusst geworden, voll und ganz durchleuchtet ein Drehkreuz passiert, und stand nun auf dem bestbewachten Platz der Welt, doch so schnell konnte ich mir die Lage nicht verdeutlichen, mir wurde nicht klar, was ich sah, nein: gesehen hatte, denn nun befand ich mich bereits in einer kleinen Seitengasse im arabischen Viertel und traf auf Abed al Nasser. Al Nasser lud mich zu einem arabischen Kaffee ein und ich nahm dankend an, denn er bot mir einen Stuhl an und ich wollte mein Verglühen, wenn es schon nicht aufzuhalten war, zumindest kurz unterbrechen. Ein Blick auf meinen Stadtplan, den ich in meiner Hand behalten hatte, ergab, dass ich ihn verloren hatte. Noch ehe sich die Kaffeefusseln in der Tasse gesetzt hatten, erfuhr ich, dass Al Nasser während der ersten Intifada acht Mal in den Arm und einmal in den Kopf geschossen wurde. Ein paar Mädchen kamen und beschauten die Ringe in Al Nassers Auslage, probierten sie an, kicherten. Al Nasser berichtete weiter: Er habe short arms. Tatsächlich sahen seine Arme recht kurz aus. Ich verstand soviel: Wegen der vielen Ein- und Durchschüsse mussten sie ihm gekürzt werden. Konnte man Arme kürzen, fragte ich mich, während Al Nasser mich fragte, warum ich hier wohl so viele Menschen sähe, die mit Waffen herumliefen. Short Arms, dachte ich, vielleicht meinte er: kurze Waffen? Nebenbei palaverte Al Nasser mit potenziellen Kundinnen, die, weiß umschlungen, interessierte Blicke auf die Waren Al Nassers warfen, Steine, Schmuck, Elektroautos – doch das scheinbare Interesse an den Waren entpuppte sich als ritualisierter Teil eines Gesprächs unter Bekannten. Ein alter Freund von ihm, sagte Al Nasser, ginge hier auch mehrmals täglich entlang, nur sei er das jetzt nicht mehr, ein Freund. Er wisse nicht, ob er ihn noch aus Höflichkeit grüßen sollte, sein Herz sagte ihm, er solle ihn ganz und gar hinter sich lassen. Ich nahm einen kräftigen Schluck Kaffeesatz, mein Mund voller Krümel, sagte ich Yes, thank you, als mir Al Nasser einen neuen Kaffee anbot. Die Juden, sagte Al Nasser, sie laufen hier durch die Gassen mit ihren Waffen. Auch alle Araber, die in der Politik tätig sind, seien eigentlich Juden, sagte Al Nasser, und während sein Mund immer breiter wurde lösten sich meine Lippen im heißen Kaffee auf. Ich saß in einem Geflecht von Seitengassen, beinahe verloren, so schien es mir, geschrumpft und vergessen. Ob noch jemand von mir wusste? Vielleicht befand ich mich bereits in einer anderen Zeit, einem anderen Raum. Das berühmte Jerusalem-Syndrom, so hatte ich im Reiseführer gelesen, ereilte nicht wenige, besonders gläubige, Touristen, die sich für den Messias hielten oder die Heilige Jungfrau Maria. So sei es schon dazu gekommen, dass zwei Messias heftig miteinander gestritten haben. Diese Fälle kommen auf eine eigens auf das Jerusalem-Syndrom ausgerichtete Abteilung der Psychiatrie. Nach ein paar Tagen, oft sogar Stunden, verschwindet die Psychose meist wieder und die Patienten können zurück in ihr Hotel. Leider war ich nicht gläubig, sonst, ich bin sicher, mir wäre mir so etwas passiert. Nun würde das Syndrom bei mir einen anderen, sicherlich unangenehmeren Weg wählen. Ich stand auf und ging, während Al Nasser weiterredete, und doch, so glaube ich, verabschiedeten wir uns voneinander. Etwas Schreckhaftes saß in meinem Bauch, vielleicht ein kleiner Vogel, der zu fliegen versuchte. Jerusalem, ein winziger, heißer, irrer Fleck auf der Welt. Innerhalb der mehr und mehr zusammenrückenden Stadtmauern saß ich nun fest. Ich lief geradeaus und befand mich nach ein paar Minuten wieder an der selben Stelle. Jerusalem, so wurde mir klar, ist eine Kugel. Das ist logisch, dachte ich. Für Sabi war Jerusalem eine Süßigkeit. Ein rundes Bonbon. Sabi, ein achtjähriger Junge aus Bethlehem, war noch nie in Jerusalem gewesen. Er konnte nicht herkommen. Seine Tante, die einen Passierschein hat, bringt Sabi, wann immer sie in Jerusalem ist, eine Süßigkeit mit. Hast du mir wieder Jerusalem mitgebracht, fragt Sabi sie. Und was bedeutete mir, die ich tausende Kilometer zurückgelegt hatte, Jerusalem? Für Sabi ist es ein Bonbon – er wohnt nur zwanzig Minuten weit weg, auf der anderen Planetenseite. In Gedanken vertieft, stieß ich mit einer christlichen Pilgergruppe zusammen, die die Grabeskirche suchte. Sie war ausgerüstet mit verschiedenen Karten, Büchern und heiligen Accessoires und alle Mitglieder trugen grellgrüne T-Shirts. Sie waren schwer zu verlieren, so dass ich mich ihnen in einer kurzzeitigen Interessengemeinschaft anschloss, denn von der Grabeskirche aus würde ich vielleicht wieder herausfinden, und, ha, da waren wir schon. Vielmehr als auf einem klaren, linearen Weg, bewegte man sich hier in Schlaufen und Haken fort. Man müsse sich den Ort, an den man sich wünscht, nur vorstellen, dachte ich. In der Kirche gingen die Pilger schnurstracks auf die heiligen Stellen zu, ich sah sie grün entschwinden und sich zerstreuen. Inbrünstig rieben sie den Inhalt ihrer Taschen auf dem Stein, auf dem Jesus gesalbt worden sein soll, einer packte DVDs darauf aus. Prozessionen verschiedener Konfessionen behinderten sich und verhakten sich kurzzeitig ineinander, wenn sie einander kreuzten, sie sangen und beteten Verschiedenerlei und für einen Moment verschmolzen die liturgischen Gesänge miteinander, aber jeder achtete darauf, die richtige, seine, Melodie weiter zu singen und sich nicht ablenken zu lassen von den anderen Christen. Nun war ich ergriffen, ich kaufte eine dünne Kerze bei einem strengen, stummen Mönch und bahnte mir einen Weg durch die vielen in der Luft schwebenden Handykameras; durch dieses blaue Leuchten hindurch schwebte ich mit meiner brennenden Kerze in der Hand, vielleicht stundenlang. Als ich wieder herauskam, stieß ich, geblendet von der Helligkeit, mit einem schönen Mädchen und ihrem Maschinengewehr zusammen, das sie lässig über ihrem Sommerkleid trug. Eine größere Gruppe südamerikanischer Nonnen drängte in die Kirche und hätte mich beinahe wieder mit hineingerissen. Nach Gassen voller bunter, über den Köpfen thronender Tücher, sie flatterten nicht, denn hier ging kein Wind, die Luft stand hier seit über zweitausend Jahren, an all den Händlern vorbei, manchmal doch gefangen genommen, einer riss mir beinahe mein Dekollete auf, als ich mir bereitwillig, nein schwach geworden, eine knallrote Kette anprobieren ließ und war beleidigt, dass ich empört war, ich sei nicht leidenschaftlich, sagte er, sonst hätte er mir die Kette geschenkt, nach Biegungen, Treppen, sich verengenden Passagen, sah ich eine Lichtung, wurde wieder durchleuchtet und stand erneut vor der Klagemauer. Im Herzen einer ungeheueren Person, umgeben von goldenen Kuppeln, heiligen Mauerresten und religiöser Hingabe, derart angezogen und abgestoßen, dass ich nur auf der Stelle stehen bleiben konnte. Es dämmerte, Muezzinrufe und Kirchenglocken, Gruppen orthodoxer Juden in abendlicher Geschäftigkeit, immer wieder zum Beten, zum Wiegen, zum Klagen. So nahe, wie hier alle zusammen sind, so kann niemand miteinander sprechen. Je enger alle zusammen sind, um so schärfer werden die Grenzen, die sie um sich ziehen. Sie müssen die Bulldozer aufhalten, sie müssen ihre Stadt beschützen, dachte ich. Die Mauer, die Jerusalem teilt: Wäre sie breit, statt hoch, wäre sie keine Mauer, sondern ein breiter, angeschwollener Fluss. Die Mauer schlängelt sich durch die Stadt. Aber sie ist kein Fluss. In dem Moment wusste ich, jetzt würde ich raus finden, und ich fand raus.

Tuesday, July 15, 2008

Reine Existenz.



















Als Kind habe ich hier einen kleinen Rochen gefangen. Der Rochen war zunächst eine seltsame Scheibe knapp über dem Meeresgrund, die sich langsam und mit einer Art Flügelschlag fortbewegte, kurze Zeit später dann ein dunkelgraues Knäuel in meinem Kescher. Ich brachte ihn stolz an den Strand, wo er von Hotelgästen bestaunt wurde. Den Rochen zu fangen, war einfach. Ich hatte ihm den Kescher vor die Nase gehalten, er war hinein geschwommen. In Sperlonga war immer alles einfach. Hier konnte man Bocciaturniere gewinnen, Wasserskifahren im Hotelpool lernen, mit dem Maler Victor Koulbak zum Frühsport gehen. Die sechzehnjährige Flavia, die sich als Tochter von Ornella Muti hätte ausgeben können, wollte mit dem zwölfjährigen Benjamino Händchen halten, der das alles gar nicht verstand, der am liebsten weggelaufen wäre zu seinem Freund Luca. Luca, der heimlich Samuraihefte las, Pink Floyds ‚The Wall’ als Bibel bezeichnete und davon sprach, später einmal Surfer vor Big Sur werden zu wollen. Ich zweifelte damals nicht daran, dass er bald vor der Küste Kaliforniens Erfolge feiern würde.



















Im Hotel gab es keine Telefone, keine Minibar, keine Fernseher. Es gab auch keine Klimaanlagen oder Fliegengitter, es gab Betten für knapp 100 Gäste und einen Steinfußboden, der auch dann noch die Füße kühlte, wenn das Thermometer im Inneren des Betonbaus weit über 30 Grad anzeigte. Nachts musizierte eine Grillenarmee, während unsere Badesachen auf dem Balkon trockneten. In der Ferne bellte immer irgendein Hund, und morgens, bei Sonnenaufgang, krähte ein alter Hahn das Personal in die Großküche und uns unter die Duschen. Der Schweiß der Nacht musste abgewaschen werden, bevor wir, die Männer in Leinenanzügen und die Frauen in Sommerkleidern, im Frühstückssaal einander zunickten. Wir, das waren Goldhändler, Anwälte, Literaturprofessoren, ein Dealer aus Berlin-Kreuzberg namens Mohrchen, Kranbauer, Künstler, ein Hutmacher aus Florenz, Journalisten und schier unendlich viele Kinder, die sich noch zu benehmen wussten, am Frühstückstisch leise sprachen und höflich um Erlaubnis baten, wenn sie aufstehen und an den Strand gehen wollten.



















Die Küstenstadt Sperlonga lag am Strandende auf einem Felsen, im Mittelalter als Festung erbaut und von den Bewohnern kalkweiß gekleidet. Nach Sperlonga konnte man nicht mit dem Auto fahren, man musste unendlich viele Stufen in engen Gassen nach oben steigen. Auf dem Marktplatz zwei kleine Cafés, in einem von ihnen hat Max Frisch im Jahr 1952 gesessen und eine Postkarte an Verleger Unseld geschrieben. In Sperlonga, freute sich Frisch damals, sei ihm endlich eine ‚reine Existenz’ möglich.
In über fünfzig Jahren hat sich Sperlonga verändert. Am Strand wurde ein Hotel ans nächste gestellt, und obwohl die Liegestuhlreihen noch an einer Hand abzuzählen sind, ist ‚reine Existenz’ nur möglich, wenn man zufällig das eine Hotel findet, das sich am Ende einer langen, sandigen Auffahrt versteckt. Ein Hotel, in dem es auch heute noch keine Klimaanlage gibt, keine Telefone, keinen einzigen Fernseher. Um 23 Uhr schließt der Portier ab und löscht das Licht in der Empfangshalle. Auf den Zimmern wird dann geflüstert, weil die Wände dünn sind und man die Nachbarn nicht stören möchte. Das Hotel hat seinen vierten Stern verloren, weil Reisende heute einen anderen Komfort erwarten, die Preise wurden hingegen erhöht. Wenn man ‚reine Existenz’ bieten kann, ist kein Preis zu hoch.

Tuesday, June 24, 2008

Elvis lebt in Tokyo


Ihara lebt in Tokyo. Er ist ein kleiner Angestellter eines großen japanischen Konzerns. Wochentags fährt er jeden Morgen mit der übervollen U-Bahn in die Innenstadt. Das dauert eine Stunde, Ihara lebt in den Außenbezirken auf 20qm zusammen mit seiner Mutter. Meist bekommt Ihara in der U-Bahn keinen Sitzplatz mehr, was ihn aber nicht davon abhält, an eine der Haltestangen gelehnt ein Nickerchen zu machen. Die Erkennungsmelodie der Station, an der er aussteigen muss, weckt ihn, die vom Band laufende Stimme warnt ihn vor der Bahnsteigkante und wünscht ihm einen erfreulichen Tag. Im Großraumbüro angekommen, setzt er sich an seinen Schreibtisch und bearbeitet Akten. Ganz vorne im Raum sitzt mit dem Blick auf die Mitarbeiterschar sein Vorgesetzter, dem keine Fremdbeschäftigung entgeht. Nach Feierabend gehen die Mitarbeiter seiner Abteilung in eine der vielen Bars in der Nähe des Firmengebäudes. Ihara ist müde und würde lieber nach Hause fahren, weil seine Kollegen und vor allem sein Vorgesetzter dies aber als rüde empfinden würden, ist er bisher jedes Mal mitgekommen. Gemeinsames Trinken nach Feierabend fördert den Zusammenhalt. Wenn Ihara endlich zu Hause ankommt, fällt er ins Bett. So vergehen der Montag, der Dienstag, der Mittwoch, der Donnerstag und auch ein Großteil des Freitags. Am Freitagabend aber spürt Ihara auf der Rückfahrt in seinen Bezirk, wie sich Vorfreude in ihm ausbreitet. Sein Fuß wippt schon im Takt der Melodie, die nur in seinem Kopf zu hören ist. Zu Hause angekommen, geht er zielstrebig zu seinem Kleiderschrank und holt seinen Samstagsanzug heraus. Er säubert ihn sorgfältig, drapiert ihn auf dem Stuhl neben seinem Bett, legt Haargel und Kunstkotletten dazu. Das Einschlafen fällt ihm heute nicht leicht – seine Beine kribbeln.

Am nächsten Morgen beginnt Ihara sofort mit der Vorbereitung. Der Anzug wird angelegt, die Kotletten aufgeklebt, die Haare mit viel Gel und Geduld in Form gebracht. Zufrieden betrachtet Ihara sich im Spiegel. Um das gemeinsame Frühstück mit seiner Mutter kommt er trotzdem nicht herum, bevor er sich auf den Weg zur U-Bahn macht. In Harajuku angekommen, schiebt er sich mit der Menschenmasse aus der Station und überquert einen Platz, auf dem er bekannte Gesichter sieht. Yohei steht mit seinem „Free hugs“-Schild am Rand und grinst in die Kameras der Touristen, Junko und Haruka zupfen an ihren viktorianischen Kleidchen und drehen sich ihre pinken und blauen Zöpfe um die Finger, Tomoko balanciert auf offenbar neuen blauen Plateauschuhen und streichelt die Pandamütze auf ihrem Kopf, und Masao hat der Zuschauerschar seinen Rücken zugewandt und spielt gewohnt gedankenverloren Luftgitarre zu Stings „Fields of gold“. Ihara hat keine Zeit für ein Schwätzchen, er hört die Musikfetzen vom Parkeingang herüberschallen. Je näher er kommt, desto schneller läuft er. Aus der Entfernung sieht er, dass schon alle da sind: Hiroshi, der Barbesitzer und Familienvater, Takuya, der Fischhändler, Daiiki, der noch zur Schule geht, Yutaka, Tadashi, Isamu und die anderen. Wie verabredet heute alle in schwarzer Lederkluft. Sie grooven bereits, was die Hüften hergeben. Und endlich ist auch Ihara angekommen, ruft eine aufgeregte Begrüßung in die Runde, übertönt von der laut aufgedrehten Musik aus Hiroshis Beatbox, streift ungeduldig seine Lederjacke ab, wirft sie auf den Asphalt und beginnt zu tanzen. Er tanzt mit Leidenschaft, er tanzt gut, er tanzt gemeinsam mit seinen Freuden, er tanzt sich die Eintönigkeit seines Alltags vom Leib, tanzt über sie hinweg, er tanzt und tanzt und tanzt, heute darf er es, heute kann er es, heute ist er Elvis, und mit Elvis zusammen singt er: „Lets rock, everybody, lets rock/ everybody in the whole cell block/ Was dancin’ to the jailhouse rock”!

Friday, June 20, 2008

Heimwehtourist.


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Der Stadtplan deutet an: Hausnummer 22 Ecke Kirschallee, Hausnummer 2 Ecke Menzelstraße. Willy Cohn hat also direkt gegenüber gewohnt, Hausnummer 17. Kann man Nachbarschaft dazu sagen? Gibt es ein Wort fürs Gegenüberwohnen? Irgendwann sind beide umgezogen. Willy Cohn in die Opitzstraße, Lauterbachs vom Haus mit der Nummer 2 ins Haus mit der Nummer 20.



Eine kleinere Wohnung, die Söhne waren aus dem Haus, lebten in Thorn und Berlin, der Vater im Zwangsruhestand. Das Geld wurde knapp, die Photos aus der Wohnung in der Wölflstraße 20 zeigen viel zu große Möbel auf viel zu engem Raum. Toni erinnert sich nur an die Wohnung in der Wölflstraße 2. Sie sagt: „Eine sehr geräumige Wohnung mit großem Balkon. Es muss ein Eckhaus sein, aus rotem Backstein. Steht da überhaupt noch ein Haus? Es ist doch im Süden.“ Es steht noch. Hans Poelzig hat es entworfen. Die linke Pocztowa hat sich von zwei Häusern nicht getrennt, hat sie aufgehoben: Hausnummern 2 und 20, ausgerechnet. Dazwischen zieht sich heute ein Plattenbau die Straße entlang. Die rechte Pocztowa hingegen hat mehr aufgehoben, 15, 17, 19, alle noch da. Obwohl die Russen von Süden aus in die Stadt kamen und am Reichspräsidentenplatz ins Stocken gerieten. Der Reichspräsidentenplatz, auf dem Willy Cohn nach Spaziergängen zum Ohlauufer Verschnaufpausen einlegte, sich auf den Parkbänken ausruhte, bis man Schilder anbrachte: Für Juden verboten. Bis er in die Opitzstraße zog. Wann aber sind Lauterbachs von der 2 in die 20 gezogen? Toni sagt: „Das weiß ich nicht. Ich war doch schon längst in Palästina.“ Im Brief von Amandus an die Universität von 1937 steht noch Wölflstraße 2, im Adressbuch Breslaus von 1941 dann Wölflstraße 20. Genau wie auf der Rückseite des Photos, das im Hintergrund das Barockgebäude des Oberbergamtes zeigt.



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Andere Photos zeigen groß gewachsene Söhne lächelnd auf der Kirschallee. Dort, im Wasserturm, der heute ein Edelrestaurant beherbergt, gab es schon damals ein Aussichtslokal mit Blick über die Stadt. So steht es im Woerl Reisehandbuch Breslau von 1926. Besonderheit: Touristen fuhren im elektrischen Aufzug nach oben.


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Ein paar Kilometer südwärts, am Ende der Kaiser-Wilhelm-Straße, das Gebäude der Schlesischen Funkstunde. Geburt des Hörspiels unter Friedrich Bischoff. „Hallo: Hier Welle Erdball!“



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In der Pocztowa spielen auch heute noch Kinder, warum auch nicht? Abgesehen vom fehlenden Erker am Haus mit der Nummer 20, stimmen Fenster, Stockwerke und Eingangstür genau mit dem Haus auf dem Photo überein. Ist das jetzt beruhigend? Ist das überhaupt wichtig? Gibt es einen Grund für Recherchetourismus? Ich höre tief in mich hinein.

Thursday, June 19, 2008

Feucht-fröhlich auf Thai


Mit wollenen Ringelsocken, Mütze und mehreren Schichten Jacken sitze ich bibbernd und Füße reibend auf einem Metallstuhl am Gate, während Jan unter dem Handtrocknegerät der Männertoilette sein nasses Shirt fönt. Draußen sind es weit über 30 Grad. Die anwachsende Schar wartender Japaner, uniformistisch gekleidet und in unkritisierbar korrekter Haltung, ignoriert großzügig meinen lächerlichen Anblick. Der japanische Reisende verfügt offenbar über eine konstant hohe Körperwärme. Warten auf den Flug nach Tokyo im stilistisch wie temperaturtechnisch unterkühlten Megaflughafen Bangkok.

Heute feiert Thailand Neujahr: gut getroffen? Ja: Aus den Riesenwasserpistolen junger Thais, die dicht gedrängt auf der Ladefläche von Pickups hängen und Passanten und Kontrahenten kreischend unter Wasser setzen. Gut getroffen auch aus den Wasserschläuchen der Angestellten, die vor Praxis- und Ladeneingängen auf neue Opfer warten. Aus den bunten Plastikeimern der Kinder, die sie auf vorbeifahrende Autos, in offen stehende Bustüren oder – am liebsten! – in den Fahrgastraum vollbesetzter Tuktuks, der Motorradrikschas entleeren. Dieses Treiben beobachten wir schon auf den ersten Metern Richtung Silom Road. Dort, so wurde uns empfohlen, könne man die Zeit bis zum Weiterflug überbrücken. Wir freuen uns angesichts des offensichtlich hohen Spaßfaktors dieser Art der Silvesterfeierlichkeit: Feucht-fröhlich auf Thai. Im Getümmel dürfen wir dann feststellen, dass auch bepackten Touristen keine Gnade gewährt wird. Schon ziemlich durchnässt, stoßen wir zwischen Hochhäusern schließlich auf den ersten Tempel, der mit disneyhafter Farbigkeit und einem Geruchsnebel aus Blüten und Räucherstäbchen seinen Teil zur Sinne verwirrenden Atmosphäre der Stadt beisteuert. Doch bevor wir ihn betreten können, lernen wir einen zweiten Neujahrsbrauch kennen: Grinsende Thais bestreichen unser Gesicht mit einer weißen, kreideschlammartigen Substanz. Eine besonders spaßige Feiertagspraxis, die uns verwirrt: In Thailand, so lasen wir in unserem Reiseführer, sollte man Berührungen des Gesichts eines Gegenübers unbedingt vermeiden, da sie als beleidigend empfunden werden. Dort stand nicht: Kleiden Sie sich an Neujahr bitte wasserfest. Wir werden ihn wohl im nächsten Wasserbottich versenken. Auf dem Rückweg zum Flughafen im barbiepinken Taxi reinigen wir uns notdürftig. Nach einem halben Tag auf Reisen sehen wir aus, als wären wir schon Monate unterwegs.

Tuesday, June 17, 2008

Stonetown

dies Haus steht festgebunden an einer Laterne
hängt auf der Leine ein giftgrüner Mantel?
in den Wurf Krähen bröselt Zement-Schrift

Elfenbeinfarbe, arabische Ziffern, Gewürz-
Nelken, Einschusslöcher, Atoll
die Fingerkuppen des Sultans wühlen in Safran
ein Preußisches Kater-Blau, nackter Sklave
sein Lungen-Exkrement

dies Haus steht festgebunden an anderen Häusern
an Hauskanten, Hausflächen, die sich jetzt auftun
da liegt dann plötzlich der Ozean, ein Tierrücken

dessen Flosse ein leichtes Segel ist

Am Rande: Moskau - Bischkek

Ein trippelndes Mädchen, zwei Puter unter den Armen, schlängelt sich durch das Drehkreuz. Ihre Hände sind lädiert, sonst ist sie weiß, schmal, trägt die Schulterblätter aufgestellt. Der Zopf schwingt seidenbandartig über den Rücken. Ein Flughafenbeamter hält ihr die Glastür auf, nickt den Ansatz einer Verbeugung.

Zwischen den Säulen des Opernhauses der Körper einer Krähe. Der halb geöffnete Schnabel, von Fliegen blinde Augenhöhlen. Zündelnd das Überhängsel eines kleinen, matschigen Organs. Blut flammt den milchigen Wundsaft. Ein Flügel hängt lose am Leib, wie abgelegt, verbrannt.

Koken hat Seeblick und das Dach voller Dörrobst, Apfelscheiben, Pflaumenleiber. Ihre Hände sind kürbiskrautgroß und von der Wallnussernte schwarz. Koken schlurft mit ihren Filzfüßen durch den Garten, zum Waschhaus, in die Küche, zum Wassereimer am Birnenbaum, dann das schreiende Telefon. Der Eisenhörer liegt ihm schwer auf der Brust, blasses Grün, 1937. Koken hebt ab mit beiden Händen, singt kurz in den Hörer, leuchtet, hängt das Monstrum scheppernd ein. Die Küchentür fährt in den Angeln zusammen.

die gemeinte stadt

kann doch nicht so tun als seist du nicht gemeint stadt
voll schnitte: film und fluss und im wind die sirenen

meinst du stadt dich selbst jemals eigentlich
zug um zug um zug dir zwischen den beinen

versteht dich kein mensch bist doch kein mensch 
ich dachte stadtlyrik sei erledigt seit den bomben

täler bist du scherst dich um schnitte nicht die wir so basteln
ach was sag ich basteln ich zimmer mir eine dreckige taube

eine minderheit zug um zug um zug diese stadt ist 
sirene und odysseus und woody allens brille in einem

und alles was ich meine macht mich mürbe vor unbestimmtheit
und alles was ich meine mache ich in dieser stadt bestimmt

immer als heimkehrer
immer als durchschnitt

und odysseus muss eh für jeden scheiß halten warum also nicht
für dich stadt mit gärten auf dächern in denen dächer wachsen

kann doch nicht so tun als seist du wirklich gemeint stadt
voll schritte durch film über fluss und im wind bald der abschied voll hölderlin und aspirin

Thursday, June 12, 2008

baires che Randnotiz

Jedes Mal wenn ich in Ezeiza, Flughafen Buenos Aires, aussteige, möchte ich gerne „danke“ sagen. Einfach. Irgend jemandem. Nicht laut. Gerne leise. Dem Polizeibeamten in schwarzer Uniform. Dem Café-Mädchen mit Service-Haube. Dem Taxifahrer mit weißem Knitterhemdrücken. Fänd er komisch. Also lass ich das. Denk es laut. Schick es den Dingen, die vor dem Taxifenster vorbeirauschen. Wir Richtung Zentrum. Taxi, Fahrer, ich.
buenos aires. plaza san martín. 2008


buenos aires. san telmo. 2004


buenos aires. plaza dorrego. 2004

baires che Randnotiz

Auf dem Weg zu Dir. Bleibt unklar. Wer Du bist. Du. Die Stadt. Oder die Stadt Du. Ist beides. Ist Eins. Ist Du und Du und da will ich hin. Deshalb. Ich bin. Hier. In Buenos Aires. Bei Dir.

argentinien. 2007

baires che Randnotiz

Orangen. Hier, schau, ganz echt von. Kleinen Orangenbäumen gefallen in. Kleine Straßen inmitten. Der Stadt. Buenos Aires und ich. Hab sie noch nie gehört. Fallen und Aufschlagen auf. Heißem Asphalt. Liegen so viele. Orangen auf heißem Asphalt. Den Straßen, den Gehwegen, mitten, im Zentrum, drinmitten, aufgeplatzt, weggekickt, plattgefahren, angeschnuppert, hinterher ge kullert, saftig, triefend, außen grau, innen O und ich vor Bäumen. Stehen geblieben. Warte auf. Wie hört sich das an? Stell ich mir vor während. Dessen eine vorbei rollt. Fruchtball des Alltags versetzt mich in. Staunen.


buenos aires. la boca. 2004

Sunday, June 08, 2008

Wien (Weltrauchen, Teil 2)



Kiosk gibt es nicht. In Wien kauft man Zigaretten in einer Trafik, wobei man, bitte, die letzte Silbe betont.

Trafik gibt es nicht. Zumindest die eine, meine, unsere Tabaktrafik in Glanzing. Jedes Mal, wenn ich nach Wien komme, frage ich meine Mutter: "Gibt es schon einen neuen Inhaber?"

Gibt es nicht.


"Bitte zwei Packerl Marlboro", sagte ich als kleiner Junge.
"Grüße an den Vater", sagte Herr N. freundlich.
Das Wechselgeld durfte ich immer behalten. Der alte Herr N., der seufzend seine Beinprothese hin- und herzog, war für mich der Inbegriff eines österreichischen Trafikanten. Seit jeher, schon bald nach Erlass des Tabakmonopols durch Josef II., wurden Kriegsversehrte und schuldlos verarmte Beamte bei der Vergabe von Tabakverkaufsbewilligungen bevorzugt. Eines Tages war Herr N. nicht mehr da.

"Bitte ein Packerl Marlboro Lights", sagte ich als Zivildiener.
(Zivildienstleistender gibt es nicht.)
"Grüße an die Mutter", sagte Herr H. freundlich.
Das Wechselgeld durfte ich immer behalten, meine Zigaretten bezahlte ich aus eigener Tasche. Herr H. war ein regelrechter Charmeur, der seine weibliche Kundschaft mit Komplimenten überhäufte und den kleinbürgerlichen Alltag der Glanzinger Damen ein wenig aufzuhellen schien. Er war eine Generation jünger als sein Vorgänger und aus diesem Grund vom Krieg verschont geblieben. Eines Tages war Herr H. auch nicht mehr da.

"Bitte ein Packerl rote Gauloises", würde ich heute gerne zu Herrn N., Herrn H., oder zu wem auch immer sagen, nur steht die Glanzinger Trafik leer. Sogar der altbewährte Zigarettenautomat wurde entfernt, der Abdruck an der Außenfassade stimmt wehmütig. Das Ende einer Ära.

In Deutschland wundere ich mich immer, dass in jeder Kneipe ein Zigarettenautomat herumsteht und dass Tabakwaren regulär an Tankstellen oder im Supermarkt erhältlich sind. In Österreich dürfen Zigaretten zum regulären Preis ausschließlich in Tabaktrafiken ausgegeben werden, auch einen Automaten findet man, wenn man einen findet, nur in der Nähe einer Trafik. Kauft man Zigaretten an der Tankstelle oder im Restaurant, wird ein saftiger Aufschlag fällig. Eine Trafik ist also notwendig, um den menschlichen Grundbedarf an Zigaretten zu decken. Darüber hinaus erhält man in einer Tabaktrafik auch Zeitungen, Zeitschriften, Schreibwaren, Fahrscheine, Parkscheine, Lottoscheine, Briefmarken, Brieflose und Rubbellose. Ohne Trafik hat man demnach ein empfindliches Infrastrukturproblem.


Ein Profiteur findet sich immer: In Glanzing ist es die sogenannte "Kondi", eine heruntergekommene Konditorei, die sich in unmittelbarer Nähe zur ehemaligen Trafik befindet und seit Jahrzehnten verrauchten, vertrockneten Kuchen sowie schlechten Kaffee verkauft. Da es in Glanzing weit und breit keine andere Tabaktrafik gibt, wurde dieser Konditorei vor kurzem das Recht eingeräumt, Zigaretten zu Trafikpreisen zu verkaufen, anstatt von Amts wegen darauf zu drängen, die eine, meine, unsere Trafik neu zu verpachten! Ich fahre lieber drei Stationen Bus oder fünf Minuten Fahrrad oder eine Minute Auto, als einen Fuß in diese verrauchte "Kondi" zu setzen, um dort Zigaretten zu kaufen.

Kairo (Off Topic)



ich erschlug
eine küchenschabe
mit dem koran
u. kam
mir so poetisch vor
den insektenrest
wischte ich
mit klopapier
vom grünen buch





Kairo (Weltrauchen, Teil 1)



mit dem jungen
auf der brücke
nach mohandiseen
rauche ich
cleopatra lights
ein zug
gehört dem nil
das war der deal






Wenn einer keine Reisen tut, hat er nichts zu erzählen. Also müssen eine vor Jahren getätigte Reise und ein während dieser vor Jahren getätigten Reise geschriebenes Gedicht herhalten, um den Grundstein für eine großzügig angelegte Serie zu legen, die in unregelmäßigen Abständen auf Weltwohnen erscheinen wird: Weltrauchen (oder: La Fumée mondiale) huldigt, wie der Name schon sagt, dem Kulturgut Tabak und dessen unterschiedlichen Ausformungen an verschiedenen Orten der Welt. Diese Huldigung ist zugleich ein Abgesang, die wehleidige Klage eines Weltrauchers über die fortschreitende Entzauberung und den unabwendbaren Untergang des geliebten Suchtmittels im 21. Jahrhundert.

Eine Anmerkung zur fünften Zeile des Gedichts: Diese Zigarettenmarke gibt es wirklich, ehrlich.

Wednesday, May 28, 2008

Auf Dächern


Ich sitze in einem Sessel auf dem Dach, Blick auf Tel Aviv. Gerade, als ich mich dazu entschlossen habe zu schreiben „Neben mir steht ein leerer Stuhl“, kommt ein Mädchen, das den Stuhl wegnimmt. Ist der noch frei?
Ich habe Blick auf Tel Aviv bei Nacht.
Es gibt Postkarten: Tel Aviv at Night.
Notiz: Tel Aviv ist eine Welle, die Lichter der Hochhäuser sind Surfer.
In Klammern: Tel Aviv bei Nacht, Blick von Dachterrasse, Old Jaffa Hostel.

Was mir vor ein paar Minuten hier auf dem Dach erzählt wurde:
Es gäbe auf dem Weg von Jaffa in die Stadt einen kleinen Kameraladen. Die Besitzerin sei eine sehr alte Frau, eine Fotografin. Der ganze Laden hinge voll mit ihren Fotos von Old Jaffa.

Und es habe heute einen Wüstensturm gegeben, der auch für die plötzliche Abkühlung verantwortlich sei. Deshalb auch die Eintrübung des Himmels. Ich überlege, welche Wüste es sein könnte, aus welcher Himmelsrichtung der Wind kommt. Ich koste an meinem Unterarm, kein Sand.
Ich bin neidisch, nein eifersüchtig auf das Wissen, die Orte, die Begebenheiten, die mir bloß erzählt wurden.

Dafür sehe ich die Dächer. Ich erzähle die Dächer:
Auf den Dächern gibt es weitere Landschaften, kleine Behausungen, viel schöner als die Höhlen, die man sich als Kind so gern aus Bettlaken gebaut hat; die Wucherungen, die Türme aus angehäuften Habseligkeiten und die Gänge, die sich zwischen ihnen bilden, sind nicht zu vergleichen mit einfachen Dachböden, das hier sind die Dächer selbst. Auf den Dächern sitzt man auf Sofas, flippt Sandalen gegen den Wind, randaliert in seinen Gedanken oder ist ganz eins mit sich. Als Tourist spielt man auf diesen Dächern Maultrommel oder Gitarre. Wir kochen hier auf den Dächern. Wir suchen Kaffee auf den Dächern. Wir tragen Bierflaschen hier hoch auf die Dächer. Hier oben auf den Dächern werden die Vögel gefüttert, die Vögel in den Käfigen. Hier oben bei den Vögeln können wir schlafen, wenn wir wollen. Hier oben bei den Vögeln singen wir. Hier oben erzählen wir uns Witze aus Sachsen. Vom Dach sehen wir runter auf andere Dächer. Oh, all diese kleinen Wohnungen, die Zimmer, in die man nicht hineinsehen kann, weil sich ihre Kopfklappen nicht öffnen lassen. Auf ihren Köpfen thronen ungeheuerliche Massen alter Tische, Stühle, Herde, Schränke, loser Schubladen, Karren, Gestänge, unvergleichliche Stoffbespannungen – niemals wird das jemand wegräumen. Es gibt so bunte und es gibt so graue Dächer. Sie verändern sich, die so verschiedenen Dinge werden mit der Zeit einander immer ähnlicher, ihre Buntheit bleicht mit den Jahren aus, ihre Form verwandelt sich; was unterscheidet einen Tisch noch von einem Stuhl noch von einem Kühlschrank.

Monday, May 26, 2008

Über die Hingabe II


Salwa und ich sitzen im Wohnzimmer von Tante Fatima zwischen Salwas Schwestern, Cousinen, Nichten und Neffen. Die Kinder liegen, wie die Hunde im Hof, ausgebreitet im Zimmer. Einige Frauen streifen die Tücher ab, lassen kleine Landschaften fallen: Wüsten, Dächer, Straßen. Salwas Tuch war mal ein See, glatt und kühl, und ein Lachs ist da hindurchgeschwommen. Mit der Zeit sind sich Sand, Wasser und Lachs dann ähnlich geworden. Ihre Buntheit hat sich ausgeglichen zu einer gemeinsamen Farbe.


Tante Fatima hat ein festes strenges Haarnest. Jemand sagt, sie sei krank. Aber Tante Fatima leuchtet das ganze Zimmer aus mit ihrem Schweigen und Schauen.


Nachts wieder das Geschwirr der Muezzin-Rufe, das sich ausdehnt zu einem einzigen Ton über der Stadt. Danach nur noch Tierlaute. Hunde, Enten, Tauben, das Auf und Ab der Hähne und das Quietschen der Esel. Als schöpfe jemand Wasser mit der Pumpe.


Am Mittelmeer saßen zwei Männer auf Campingstühlen. Sie trugen Badekleidung und hatten Handtücher bei sich. Aber sie gingen nicht gleich schwimmen. Sie betrachteten erst das Wasser, als müssten sie sich lange darauf einstimmen.


Salwa spricht, und was sie sagt, steht immer schon vorher da. Salwa spricht. Marwa übersetzt. Und ich antworte hinein in Marwas Geschichte über Salwa.

Saturday, May 24, 2008

Berlin-Tel Aviv

Unser Eintritt ins Land beginnt mit Fragen am Berliner Flughafen. Die Fragen sind auch im Englischen leicht verständlich, die Befrager meist nett und höflich, die Befragten erleben ein Abenteuer. Das Abenteuer der Grenze. Das Abenteuer des Rests eines Kriegs. Dieser Krieg wird am Glimmen gehalten, jemand bewacht das Feuer.

Tragen Sie eine Waffe bei sich? (Nein)
Wer hat Ihren Koffer gepackt? (Ich)
Haben Sie arabische Freunde? (Zögern, man überlegt: Nein)
Ach, und diese noch, meine liebste: Haben Sie Ihren Koffer, nachdem Sie ihn gepackt hatten, noch einmal unbeaufsichtigt gelassen? (Nein, ich blieb die ganze Zeit bei ihm)

Auf dem Flughafen duftet es ungeheuerlich. No cigarettes, no weapons allowed.
Spät am Abend stehen wir schon mit nackten Füßen im weißen Sand, auf dem Mond. Einige springen umher, andere stehn herum am Nachtstrand, gerührt von diesem plötzlichen Sommerabend. Fotos von dunklem Strand und dunklem Wasser.
Kleine Kopfberge auf den Fotos: Das sind wir am Strand von Tel Aviv.
Eigenartig: Wir wurden von Dvir an den Strand gebracht, weil man doch als erstes an den Strand will, stehen nun hier in schnell ausgepackten, zerknitterten Sommerröcken mit den Waden im Wasser, waten herum. Die Wintermäntel liegen zusammengeknüllt auf dem Bett oder sind im Koffer unter die Stiefel gequetscht, an denen noch Berliner Dreck klebt; der Schnee daran ist längst geschmolzen.

Friday, May 23, 2008

Über die Hingabe I

Salwa spricht. Sie fügt Worte in die Lücken, die sich in meinem Sprechen auftun. Legt ihre Worte über meine, nimmt mir die Worte aus dem Mund. Salwa spricht: Mahmoud, Mahmoud. Ich wiederhole: Mahmoud, Mahmoud. Sage: Onkel. Sage: Nichte. Sage: Salwa.

Salwa spricht, und was sie sagt, ist leicht zu sehen. Es steht immer schon vorher in ihrem Gesicht. Es steht alles da: Shahd, Mohammed, Omar. Der Vogel, die Stadt, der Nil. Salwa sieht anders aus als ihre Schwestern. Das steht auch da.

Die Hunde liegen ausgebreitet im Hof. Lassen Esel passieren, Kühe, Fahrräder und Autos, die aus allen Zeiten, aus allen Orten kommen.

Abends stehen Menschen auf den Dächern, schwenken Fahnen. Über jeder Fahne kreist bald ein Taubenschwarm und löst sich langsam wieder auf. Die Tauben kehren ein in kleine Häuser. Manchmal fallen die Muezzins diese Zeit, rufen in dem Moment aus den Moscheen, in dem die Tauben sich sammeln und wieder zerstreuen. Dann liegen Kreise über K.

Mahmoud hat gesagt, die Deutschen könnten brillant erzählen. Ihre Worte gingen so leicht durch den Tag. Er verstehe nichts. Aber er fühle den Witz.

Ich sage zu Salwa: I can feel your joke.

Monday, May 19, 2008

ein anfang in bildern:
patagonien (argentinien)/bucht "paraiso"/"rio azul" (02/2008)

Sunday, May 18, 2008

Café Prückel. Wien.



Im Café Prückel gibt es Pressschinken zum ofenfrischen Brötchen, das beim Aufschneiden noch warm ist und mehr rohen Teig als Krümel am Messer hinterlässt. Im Café Prückel ist das Ei wachsweich, die Marillenmarmelade ein Gedicht und die Butter kühl und doch streichzart. Im Café Prückel sind ‚Wiener Melange’ und ‚Verlängerter mit Milch’ so ähnlich, dass ein Schelm auf den Gedanken kommen könnte, sie seien identisch. Im Café Prückel reicht es nicht, dem Kellner dezente Handzeichen zu geben, man muss winken, als versuche man sich innerhalb einer großen Menschenmenge bemerkbar zu machen. Doch wenn man erst einmal bestellt hat, steht die die dampfende Tasse Einerlei so schnell auf dem Tisch, dass man sich fragen könnte, ob hier im Voraus produziert wird. Im Café Prückel habe ich einmal mehr mit dem Kopf genickt, als man mich fragte: „Darf es zum Frühstück auch ein frisch gepresster Orangensaft sein, mein Herr?“ Ein vorzüglicher Orangensaft. Im Café Prückel sind die Decken vier Meter hoch, das Mobiliar ist aus den späten 50ern, frühen 60ern (Man rühmt sich auf Plakaten einer 100-jährigen Geschichte), die Bezüge sind so abgesessen, dass die ehemals unebene Oberfläche des Stoffes an manchen Stellen einem Wachstuch gleicht. Und doch wünsche ich mir nichts weniger, als eine neue Einrichtung. Im Café Prückel sind ganze Raumteile mit dicken Kordeln abgesperrt, auf angehängten Schildern wird gewarnt: Hier ist reserviert! Die Gäste sitzen daher Tisch an Tisch in der Cafémitte und hören einander bei ihren Gesprächen zu. Im Café Prückel gibt es einen Nichtraucherbereich hinter Glasflügeltüren, in dem ein einziges Pärchen sitzt. Ich freunde mich mit der Vorstellung an, sie könnten aus Deutschland kommen. Sofort höre ich G. aus 700 Kilometern Entfernung lachen: "Ihr alten Nazis könnts doch gar nicht ohne Verbote." Als ich ihm daraufhin eine SMS schreibe, antwortet er Minuten später: „Hach Ben, ich würd auch gern mal wieder Prückeln.“



Im Café Prückel kam gerade ein Backpacker durch die Tür, ihm folgten zwei junge Mädchen, vielleicht 5 und 6 Jahre alt. Der Mann sah sich unsicher um, während die Mädchen sofort einen Tisch besetzten. Eines der Mädchen hatte einen Stoffdinosaurier dabei, ein riesiges Plüschtier, und als der Backpacker sich zu nichts entschließen konnte und nur fragend im Raum stand, rief das Mädchen: "I bet you can`t catch my dinosaur!" Im selben Moment flog der Stoffdino durch das Café und landete auf dem Tisch eines dicken, bärtigen Mannes, der sich Minuten zuvor eine Zigarre angesteckt und damit für eine wunderschöne Brechung des Sonnenlichts gesorgt hatte. Eine Tasse zerschellte am Boden, Besteck rutschte vom Teller, doch der Zigarrenraucher stand nur seelenruhig auf, hob den leicht kaffeegetränkten Dino vom Boden, brachte ihn dem Mädchen zurück und sagte, obwohl das Mädchen offensichtlich kein Deutsch sprach: "Naa, des geht aber so nicht." Ich sitze mit Blick auf den Stubenring, auf meinem Tisch stehen drei Silbertabletts. Eins mit der Wiener Melange (ausgetrunken), eins mit dem Verlängerten (ausgetrunken), eins mit der heißen Schokolade, die so dickflüssig ist, dass ich den Gürtel meiner Hose nach dem ersten Schluck um einen Knopf erweitert habe. Nur prophylaktisch. Ich stelle mir A. an einem der Tische vor, ganz in schwarz, ein Buch in der Hand, die schönen, dunklen Haare hochgesteckt zu einem kleinen Kunstwerk. Wie sie doch diesem Café fehlt, wie das Prückel ohne A. gar nicht zu dem werden kann, das sie mir empfohlen hat. Die Mischung aus Jugendstilbau und 50er-Jahre Möbeln wirkt unfertig ohne A., ein Café ist immer nur so gut wie seine Gäste. Auf dem Boden neben meinem Koffer kniet eine Reinigungskraft im weißen Kittel und wischt die Blätter einer Grünpflanze vom Staub frei. Beim Vorbeigehen fordert einer der Kellner: „Hier müssens bittschön a bisserl Platz lassen.“ Rechts neben mir der Zeitungsstand mit, so steht es in der Karte, ‚der wichtigsten Auswahl internationaler Zeitungen.’ Nach zwei Stunden schließlich runde ich 22,50 auf 25 Euro und denke: Auch hier könnte ich leben. Hier, wo Zeitgeistströmungen nicht gleich das Gesicht des Alltags verändern, wo man gegen den Strom schwimmt und für Annehmlichkeiten kämpft, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wien als der vielleicht einzige Ort, wo ich mich meiner antiquierten Höflichkeit nicht schämen muss, wo Umgangsformen zur Anwendung kommen, die für Vater und Großvater eine Selbstverständlichkeit waren. Ich trete aus dem Café ins Freie, sieben- und achtgeschossige Altbauten überstrahlen selbstbewusst den Verkehr, auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlägt mir das MAK vor: Bleib doch noch ein bisschen, hier gibt es so viel zu sehen. Ich lächle zurück und verspreche: Ich komm bald wieder.