Saturday, December 29, 2007

Tegeler Nabelschau


Leidensgenosse der LTU-Ultraholzklasse in Erwartung des B.-B. nach B. (wer die Abkürzung richtig errät, bekommt eine lustige Fotoserie mit Elefantenkindern zugeschickt). Eine der vielen besonderen ästhetischen Erfahrungen im Terminal des gottlob bald geschlossenen Flughafens Tegel.

Monday, December 17, 2007

Betrachtung einer Gazelle

Zoan war Südafrikanerin. Sie hatte lange auf einer Farm gelebt, die direkt an den Kruger National Park grenzte. Ihr Haus war ganz in die sanfte Hügellandschaft eingeschlossen gewesen, und je nachdem wie der Wind stand, hatte sie mal die Pfiffe der Hyänen, mal die der Pfauen gehört. Sie meinte, den Tönen immer anhören zu können, wann die Tierkehlen besonders angespannt (oder angestrengt) waren und weshalb die Töne dann vielmehr nach Schreien als nach Pfiffen klangen. Sie waren eigentlich recht oft angespannt gewesen, auch die Flugbewegungen der Vögel, das Herumstreunen der Gazellen hatte etwas Irres. Eine Gazelle war mal in ihren Garten gekommen und hatte darin ganz die Orientierung verloren. Wie eine Besessene war sie immer wieder gegen den Lattenzaun angerannt, als wäre das ein Strauch, durch den sie mühelos gleiten könnte. Sie hatte dann noch tagelang völlig entkräftet unter dem Küchenfenster gelegen, durch das Zoan sie betrachtet hatte, das zarte Gesicht, den Wimpernschwung über den Augen, die Nase, die etwas Strenges, Elitäres hatte, den Hals. Nie zuvor hatte sie einen so schönen, so glatten Hals gesehen. Er war von einem milchigen Braun, das sich unter dem Kinn aufhellte und sich sicher kühl anfühlen würde, seidig. Die ganze Schönheit der Gazelle rührte aus der Klarheit ihres Aussehens, dem unverstellt traurigen Blick, den scheuen Bewegungen des Mundes. »Die Gazelle malmte unter dem Küchenfenster, und ihre Kaugeräusche wurden zu einem Rhythmus. Ich hörte den ganzen Tag diesen Rhythmus, fing an, mich in ihm zu bewegen.« Je länger Zoan sprach und Marfa sie ansah, desto klarer wurden die Konturen der Streben, Zoan verschwamm. Marfas Blick streifte Zoans Shirt und blieb dort an einem Fleck hängen, sie verfiel augenblicklich in Mitleid. »Die Ohren der Gazelle, die ich gerade noch sah, als ich aus dem Küchenfenster blickte, die also jäh vorbeiflogen und sofort wieder verschwanden, waren Teil der Landschaft. Ich sah sie nicht mehr, aber sie waren trotzdem da.«

Sunday, December 16, 2007

Das Dorf ist nicht im Tag (Günthersleben/Thüringen)

Im alten Dorf stehen die alten Häuser. In ihren Höfen kreischen Kreissägen. Immer zerschneiden die Menschen etwas und das Kreissägengeräusch zerschneidet die Luft, weshalb nichts Ganzes mehr ist im Dorf. Auch das Dorf ist zerschnitten, in ein altes und ein neues Dorf. Im alten Dorf wohnen die alten, im neuen Dorf die neuen Menschen. Das Dorf ist voller zerteilter Wünsche. Im neuen Dorf werden Rasenmäher über alles Grüne geführt. Die Wünsche die dort ganz geblieben sind, werden hier gemäht. Und hinter den Zäunen auf langsam trocknende Haufen geworfen.

Abends um Acht ist der Tag fünfzehn Minuten im Fernsehen. Der Tag ist In- und Ausland, allein ein Drittel des Tages besteht aus Sport und Wetter. Das Dorf ist nicht im Tag.

In der Nacht zersurren im neuen Dorf die Glühbirnen der Straßenlampen die Luft, sie springen rosa an wenn es noch hell ist und werden bald darauf neonweiß. Sie machen ein Geräusch wie winzige Rasenmäher. Das alte Dorf liegt im gelben Licht alter Laternen. Diese Laternen sind still. Dafür bellen in den Gehöften die Hunde.

Die Wünsche Wintergarten und Fußbodenheizung haben keine Reihenfolge. Unsere Nachbarn und ihre beiden Wünsche führen mit Vater über den Zaun hinweg ein Gespräch. Der Zaun teilt unsere Gärten, die Reihenfolge der Fruchtwechsel jedoch ist gleich. An den Abbruchkanten der Beete war das Wetter lange nicht so gut.

Bei Westwind kann man die Autobahn hören. Nachts klingt sie wie das Meer. Anders als die vierzig Pappeln, die sich hinter unserem Haus aufreihen. Wie große betrunkene Männer schwanken sie im Wind und rauschen auch. Aber sie klingen nur nach Pappeln.

Saturday, December 15, 2007

Andalusien mit P. in mehreren Etappen.



Reisen ist Entkommen, in seltenen Fällen sogar irgendwo ankommen (in den besten). Andalusien ist mir dagegen immer eine Drohung gewesen. Aus Andalusien kamen Freunde, die dann kurzzeitig zu Feinden wurden, wenn sie erzählten, wie locker die Spanier seien, wie unbeschwert, wie sich die Deutschen (also sie selbst) ein Beispiel nehmen könnten an so viel Lebensfreude, ja müssten!, wie es doch endlich zu begreifen gelte, was Leben wirklich bedeutet: Fiesta und Flamenco und Tapas. Diese jungen Deutschen waren meist in Ferienanlagen gewesen, hatten am Strand und abends vor Disko-Theken gelegen, ‚Urlaub=Freiheit auf Zeit’ genossen. Warum nicht? Warum aber danach behaupten, man habe in nur drei Wochen ein Land durchschaut, wenn man nicht einmal das eigene begreifen kann? Nur den Stierkampf verachteten die deutschen Andalusienexperten, das sei Tierquälerei und mit der eigenen Hamsterhaltung nicht zu vergleichen. Auch nicht mit dem Zierhasen, der das USB-Kabel auf dem Gewissen hatte, zur Strafe auf den Balkon musste und dort bei 6 Grad Plus im Käfig erfror.



Teil 1, Jerez.

Es galt also, ein Vorurteil zu entkräften, als ich damals mit P. nach Spanien geflogen bin. Es ging darum, den ersten eigenen Blick gleich auch zum zweiten zu machen. Für 50 Euro mit Ryanair. Morgens um halb Vier in Ginnheim aufbrechen und bereits um kurz nach Neun spanischen Boden betreten, nach viel zu kurzer Nacht: Jerez. Vor dem Terminal ein Taxifahrer, der uns bis vor die Hoteltür brachte. Und in der Lobby die Rezeptionistin, die uns so unverschämt desinteressiert begrüßte: „Your room not ready. You wait ’til noon, Sir.“ Wie unsere Füße uns dann durch die alten Gassen von Jerez schleppten, wie keine Menschenseele auf der Straße war, außer ein Vater mit seinem kleinen Jungen, Hand in Hand auf dem Weg in die Kirche. Ein Blick auf die Uhr verriet damals: die beiden hatten verschlafen. Ich weiß noch, dass P. die Hosenbeine des Jungen kommentierte, sie endeten kurz oberhalb der Knöchel. P. sagte, dass man kaum etwas Unvorteilhafteres tragen könne, als zu kurze Hosen. Der Junge war keine zehn Jahre alt.



Nur ein milder Sonntag im November. Jerez so unfassbar leer, ausgestorben. Wir folgten Vater und Sohn zu ihrer Kirche. Das Haus Gottes innen mit Marmor verkleidet, Bänke und Kanzel aus Holz. Der Pfarrer hob ein paar Mal beschwörend die Hände, und als sich die Gemeinde nach einem Gebet wieder hinsetzte, blieben drei junge Frauen stehen. Sie trugen Kleider, an die Farben kann ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, wie selbstverständlich die Frauen stehen geblieben waren, mit durchgedrückten Rücken, so aufrecht, drei unter hunderten Gläubigen. Rebellen, Mahnende, Sünder, ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass wir noch zwei Stunden durchhalten mussten, bis wir unser Zimmer beziehen konnten. Als der Pfarrer später das Weihrauchfass an einem langen Seil durch das Kirchenschiff schwenkte, wurde mir schlecht.



Wie wir auf dem Platz in der Innenstadt doch noch ein Frühstück bestellt haben, unweit der Calle Francos, obwohl mir schlecht war von zu wenig Schlaf. Wie der Kellner keine Fremdsprache beherrschte und es mir das erste Mal unangenehm war, nicht Spanisch zu sprechen. Wir gestikulierten uns ein Frühstück: frisch gepresster Orangensaft, Milchkaffee, Schinken-Käse-Baguette. Ein Touristenmenü, für das wir dankbar waren, bis wir am Ende 14 Euro dafür bezahlen sollten.

Pünktlich um 12 im Hotel, das renoviert wurde, in kurzen Abständen übertrugen die Wände Bohrgeräusche bis unter mein Kopfkissen, und während P. Schlaf nachholen konnte, als sei Baulärm die Voraussetzung dafür, dachte ich über modernes Reisen nach. Über das Sitzen vor dem Computerbildschirm in meiner Ginnheimer Wohnung. Darüber, wie einfach es war, mit ein paar Bewegungen der Maus zwei Wochen Andalusien zu planen, ohne ein Reisebüro zu betreten. Über Wikipedia und die vielen Fakten über eine Region, die es nun zu beglaubigen galt.



Am späten Nachmittag tranken wir Kaffee in einer Bar in Bahnhofsnähe. Ein Fernseher zeigte Richard Chamberlain und eine noch sehr junge Sharon Stone. Beide planschten in einem Kochtopf und sollten gegart werden, Eingeborene führten einen Freudentanz auf. P. und ich saßen währenddessen auf Barhockern und sahen den Betreibern des Cafés beim Fernsehen zu. Auf dem Weg waren wir niemandem begegnet, auch in der Bar außer uns keine Gäste. November war kein Reisemonat, trotz Ryanair, trotz Temperaturen von über 20 Grad, trotz Sonnengarantie durch die Atlantikhochs, die sich stets über dem Südwestzipfel Spaniens festsetzen und für eine Regenknappheit sorgen, die in wenigen Jahrzehnten eine Wüstenbildung nach sich ziehen wird. Als Richard Chamberlain und Sharon Stone nach einer Befreiungsaktion aus dem Topf kippten, lachte der Kellner laut auf. Ich konnte seinen Oberkiefer sehen: Jeder zweite Zahn fehlte.



Teil 2, Cadiz.

Wir sitzen im Zug nach Cadiz. Ich habe mein Tagebuch auf den Knien und halte die braune Landschaft fest, die Steppe und die Betonsärge nie fertig gestellter Häuser. Im Abteil große Hitze, wir haben die Sakkos ausgezogen und das Fenster geöffnet. Dahinter jetzt verfallene Industrieanlagen und Olivenplantagen im Wechsel, grün nur die Rebstöcke für den Sherry, die vom Westwind mit Meeresfeuchtigkeit versorgt werden. Überall Bewässerungsanlagen, hier hat es seit fast einem Jahr nicht mehr geregnet. Erster Halt in Puerto de Santa Maria. Doch von einem Hafen ist nichts zu sehen, stattdessen am Ortsausgang ein McDonalds-Schild hoch oben über den kleinen Häusern. Parallel zu den Bahnschienen die Schnellstraße, vorbei an Salzanbaugebieten, neben einer Blechhüttensiedlung plötzlich eine Landebahn und eine einzelne Cessna.



Nach vielen Stopps schließlich die Endhaltestelle: Cadiz. Wir folgen den Passagieren aus dem Bahnhof hinaus direkt in die Altstadt. Wir laufen ohne Orientierung bis auf einen großen Platz. Dort spricht uns ein Engländer an, Tourist wie wir. Er zeigt auf ein weißes Gebäude und sagt, dort sei Trafalgar gestorben, das müssten wir uns ansehen. Dann geht er weiter. Wir steigen stattdessen die Stufen eines Kirchturms nach oben. Von dort Blick über die Dächer einer völlig weißen Stadt. Auf einem Nachbardach pinkelt ein Hund gegen einen Steinhaufen.



Ich frage mich, wer den Hund auf das Dach gebracht hat und wie er von dort wieder runter kommt. Das Gefühl unendlicher Fremde, dabei sind es nur knappe drei Flugstunden bis hierher. Viele der Häuser in Cadiz sind stark verfallen, man hat in hundert Jahren nur wenig renoviert, höchstens den weißen Kalk erneuert. Gefühl einer Zeitreise, obwohl hinter manchem Schaufenster sich Designerklamotten perfekt um die schlanken Körper der Plastikmannequins legen. Die Straßen der Altstadt sind für Touristen gestaltet, hinter einem kleinen Steintor versteckt sich eine riesige Massimo Dutti-Filiale. Ich kaufe ein Paar braune Schnürschuhe.



Nach dem Spaziergang durch die Altstadt erreichen wir die Promenade auf der Befestigungsmauer. Unter uns schlägt das Meer mit Wucht gegen Felsen an, Gischt spritzt bis zu uns nach oben. In einem kleinen Park die mächtigen Stämme zweier Gummibäume. Im Reiseführer steht: 6m Durchmesser, die Bäume seien der Stolz der Einwohner. Aber im Reiseführer steht auch, dass Cadiz die älteste Stadt Europas sei, dabei beansprucht die griechische Stadt Argos diesen Titel. Wie immer möglich, dass man Reiseführern misstrauen muss. Beim Blick auf die Stämme der Gummibäume kommen mir deshalb Zweifel, ob ihr Durchmesser wirklich 6 Meter beträgt. Das Erzählen ist eben ein Erzählen.



Teil 3, Bodega Tio Pepe, Jerez.

Hi! Willkommen bei Gonzales Byass! Mein Name ist Markus, ich leite die deutschsprachige Tour. Um 2 Uhr geht’s los, ok? Die große Tour kostet 13,50 Euro, dafür kann man zum Schluss noch ein paar Brände in unserem Shop probieren. Das lohnt sich. Also dann zwei Tickets? Wir können sofort anfangen, kommt eh niemand mehr. November ist hier tote Hose. Woher kommt ihr? Ich bin aus Bayern und hier sozusagen hängen geblieben. Ich hab in Cadiz studiert, kennt ihr Cadiz? Ist ne tolle Stadt zum Studieren, da gibt’s ganz viele junge Leute, Kneipen, Geschäfte. Anders als hier in Jerez, hier ist nichts los. Aber meine Freundin lebt in Jerez, was will man machen. Die ist gewissermaßen der Grund, warum ich in Spanien geblieben bin. Große Liebe, kann man schon so sagen. Wir haben uns beim Studium kennen gelernt. Sie hat fertig studiert, ich nicht. Aber ich hab immerhin den Job hier bei der Bodega, damit kommt man gut über die Runden. Sie arbeitet derzeit nicht. Wir wohnen bei ihren Eltern, müssen also auch keine Miete bezahlen. Mieten sind hier schrecklich teuer, obwohl einem nur Bruchbuden angeboten werden. Wisst ihr, was es heißt, wenn dich eine Spanierin ihren Eltern vorstellt. Das heißt irgendwann Hochzeit. Kann also sein, dass ich für immer in Jerez bleibe. So, hier, wir nehmen die Bahn. Die fährt uns einmal durchs Gelände. Das alles abzulaufen, würde auch viel zu lange dauern. Ich fang dann mal an. Und wenn ihr Fragen habt, unterbrecht mich einfach. Gonzales Byass wurde 1835 von Manuel María González Angel gegründet und ist noch heute in Familienbesitz. 1860 stieg der englische Unternehmer Robert Blake Byass, zu der Zeit schon Händler für Sherry in England, ins Unternehmen ein. So kommt es zum Doppelnamen Gonzales Byass, der bis heute Bestand hat. Das Unternehmen zählt 600 Mitarbeiter, so genau weiß ich das auch nicht, einer davon ist zum Beispiel Luis da drüben. Hey Luis! Que pasa, hilador? Momentan sind nur etwa zehn Arbeiter auf dem Gelände. Das variiert sehr stark. Riecht ihr eigentlich den Alkohol? Hier stinkt’s immer nach Stoff. Da kann man schnell zum Alkie werden. Der berühmteste Sherry, den sie hier machen, heißt Tio Pepe. Den kennt ihr bestimmt. Tio heißt Neffe. Neffe Pepe: saublöder Name für einen Wein, aber egal. Der soll ja auch nicht gut klingen, der soll schmecken. Und Wirkung zeigen. Vor allem auf die Frauen, nicht wahr? In Andalusien gibt’s die schönsten Frauen der Welt, das sag ich euch. Habt ihr schon welche gesehen? Leider sind die meisten hier streng katholisch und sehr schwer rumzukriegen. Schon allein deshalb liebe ich meinen Sherry, der lockert die Frauen auf. In diesen ganzen Hallen lagern Tausende Fässer, jede Halle für einen bestimmten Sherry. Wenn man hier lang genug arbeitet, kann man die verschiedenen Hallen allein am Geruch unterscheiden. Mein Job hier ist gut, besonders im Sommer. Wenn es draußen über 40 Grad hat, ist es in den Hallen angenehm kühl. Egal, das wollt ihr ja alles gar nicht wissen. Also: José Ángel de la Peña ist jedenfalls der Erfinder des Tio Pepe. Die Holzfässer für den Sherry werden 40 Jahre lang benutzt, danach ausgetauscht. Dann sind sie zu alt. Wie die Frauen, die tauscht man auch nach 40 Jahren aus, oder? Es gibt allerdings einen Unterschied: Die Fässer werden nach 40 Jahren von Liebhabern gekauft, die sie sich in den Garten stellen, die Sherryfässer wird man auch nach 40 Jahren noch gut los. Habt ihr schon Andalusische Frauen kennen gelernt? In der Jugend sind die bildschön, aber im Alter werden sie zu dicken Mamas und interessieren sich nur noch für Gott. Am Freitag ist hier eine Party, da kann ich euch ja mal ein paar Mädchen vorstellen. Sprecht ihr Spanisch? Die Mädchen verstehen nämlich keine Fremdsprachen. Diese Innenhöfe hier kann man übrigens auch für Veranstaltungen mieten. Im Sommer ist das angenehm, weil man unter dem Efeu nicht so schwitzt. Alto! Alto! Wir halten hier mal an. In der Halle da drüben gibt es nämlich ein paar sehr berühmte Fässer, auf denen lauter Promis unterschrieben haben. Kommt mal mit. Hier hat zum Beispiel der spanische König unterschrieben. Da hinten John Malcovich und Ayton Senna. Und hier drüben Christian Ude, der Münchner OB. Kennt ihr den? Den hab ich damals persönlich geführt. Hier gibt’s auch noch Francos Fass, den hab ich natürlich nicht persönlich geführt. Das Fass von Franco ist besonders gesichert, weil man recht stolz auf die Unterschrift ist. Das ist kugelsicheres Glas, da kommt man nicht ran. So, jetzt gehen wir mal Sherry trinken, oder? Deshalb seid ihr ja sicher hier. Nicht wegen der blöden Sherry-Geschichte, oder? Ihr könnt so viel Sherry probieren, wie ihr wollt. Dann werdet ihr locker, genau wie die andalusischen Mädels. Vorn im Eingangsbereich arbeitet Marcella. Die ist aus Italien, bei der ist das nicht ganz so schwer. Oder seid ihr am Ende schwul? Nicht, dass ihr mich falsch versteht: Ich liebe meine Freundin wirklich sehr. Aber wenn man hier lebt und jeden Tag so viele schöne Frauen sieht, wäre man doch blöd, nicht ein bisschen zu flirten. Das Dumme ist, dass ich noch immer kein Rezept gefunden habe, wie man diese katholischen Mädels knackt.



Fortsetzung folgt…

Thursday, December 06, 2007

Auf Sansibar (Unguja)


Manches war von solcher Schönheit, dass ich mich für mein Misstrauen schnell zu schämen begann. Denn insgeheim vermutete ich Risse in den Bildern, die ich ihnen auf diese Weise ja auch zufügte.

In Ntonya Village


Wir hatten einander so lange betrachtet, dass wir zunehmend dachten, uns bereits zu kennen.

Thursday, November 29, 2007

Synchronie I

im Flur des Opernhauses
liegt in Halmen ein Mädchen
es hatte grad Lucia gesehn
die tänzelnd durch Zweig
hatte Lucia gerufen, erkannt
(ein Flug-Organ)
an einem winzigen Mal
das aus der Nähe betrachtet
regelrecht flammte
überm Kragen des Hemds

überdies war Schnee gefalln
durch und durch russische Nacht
Teeschalen klirrten sopran
eine Nuss sprang
wie ich sehe
ist er jetzt im Verschwinden begriffen
trotzdem es noch nachschneit

es hatte grad Lucia gesehn, den Flügel
wohl kurz abgelegt, ist schon nicht mehr

Wednesday, November 28, 2007

der Stiel des Orangenbaums

schlingt sich kokett aus meinem Tisch
leuchtet weithin
deine schöne Gestalt
wie du so in deinem Garten rankst
und dich windest und verschwiegen bist

dabei fallen die neon-gelben Fischlein
natürlich aus dem Wasser-Becken raus
reflektieren natürlich dein streng
geflochtenes, kühles Licht
kracht jetzt in die blaue Liane

Korallen Gräser die Rotalgen hier
sind von Mordsschlangen Rochen
Krokodilen bewohnt, der hässliche Kopf
ist ein Kugelfisch, kein Laut
ist dein eigenes zaghaftes Schlagen
dein subversives Unterwassersein

Thursday, November 22, 2007

Jessica in Venedig.











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Im Rahmen der ersten Weltwohnen-Lesung fand Ende September ein Schreib-Workshop mit Schülern statt. Im Wallsaal der alten Stadtbibliothek haben Schüler Reiseberichte verfasst. Einige der tollen Ergebnisse kann man nachlesen unter www.workshop-literatur.de. Einen dieser Texte gibt es jetzt auch hier. Wir reisen nach Venedig zusammen mit Jessica:

„Mama, wie lange dauert es noch?“ Diese Frage hören wir jetzt schon zum vierten Mal. Wir sind um neun Uhr in Tignale, unserem Ferienort, losgefahren und nun schon seit knapp zwei Stunden unterwegs. Es ist etwas ganz besonderes. Endlich fahre ich in die Stadt, in die ich seit Cornelia Funke´s „Herr der Diebe“ schon immer mal wollte: Venedig. Noch eine halbe Stunde. Ich überlege wie es dort wohl sein wird. Sind dort wirklich so viele Tauben wie die Leute immer sagen?
11.45 Uhr, Venedig. Jetzt sind wir endlich da. Die Sonne knallt mir auf den Rücken und meine Schwester steht genauso erstaunt wie ich neben mir. All diese kleinen Gassen und Brücken. Trotz zuvor gekauftem Stadtplan haben wir keine Ahnung, wie wir zum Markusplatz kommen. Mein Vater, der sowieso schon genervt ist, weil er sein Auto unabgeschlossen in einem viel zu teuren Parkhaus abstellen musste, trottet mürrisch hinter uns her. Ich wünschte, ich hätte mehr als nur vier Stunden Zeit. All diese schönen Kirchen, Museen und Plätze. Céline und ich schaffen es, uns kurz von Mama und Papa abzusetzen und besichtigen ganz alleine eine Kirche. Da wir beide nur Tops anhaben, müssen wir uns Tücher an der Kasse leihen und überziehen. Den Sinn dahinter haben wir zwar nicht ganz verstanden, aber Hauptsache wir können uns die Kirche angucken. Gold und Stuck soweit das Auge reicht. Die Chiesa Santa Maria Formosa ist nicht besonders groß aber wunderschön. Dafür, dass Venedig so überfüllt ist, ist „Santa Maria“ erstaunlich leer. Gerade mal zehn Besucher sind hier. Ein Mann fällt mir und meiner Schwester sofort auf. Er trägt ziemlich zerschlissene Kleidung und steht ganz alleine vor einem riesigen Berg aus Kerzen. Da wir beide kein Italienisch können, verstehen wir nicht was er sagt, aber wir verstehen, dass es für ihn sehr wichtig ist. In seiner linken Hand hält er das Bild einer jungen Frau, die nicht älter als 30 sein kann. Wir wissen nicht warum, aber so schön und atemberaubend die Chiesa Santa Maria auch ist, der Mann mit dem Photo geht uns als Einziges nicht mehr aus dem Kopf.

Friday, November 09, 2007

Lagos oder der unglücklichste Ankommende

Denke ich an Lagos, denke ich zuerst an das Unglück des Ankommens in Lagos. Das Unglück des Ankommens in Lagos beginnt im Prinzip schon beim Beantragen des Visums für die Reise nach Lagos (siehe Eintrag unten), vertieft sich aber noch im Moment des Eintreffens am Flughafen. Kenner behaupten, der Flughafen von Lagos ist noch schlimmer als die Stadt Lagos, was jedoch andere Kenner vehement bestreiten. Zu diesen anderen Kennern zähle auch ich: der Flughafen von Lagos ist zwar weiterhin eine Unverschämtheit, hat sich aber in vielen Aspekten verbessert – zum Beispiel wird man nicht mehr direkt nach dem Verlassen des Terminals von Polizisten und Soldaten bedrängt und bedroht, und auch die früher gängige Praxis des Flughafenpersonals, Gepäckstücke direkt aus dem Bauch des Flugzeugs zu stehlen, hat zuletzt abgenommen.

Seit diesen Verbesserungen ist das Eintreffen am Flughafen Lagos zwar immer noch ein Unglück, jedoch bei weitem nicht so ein Unglück wie das Hineinfahren nach Lagos durch seine ewigen, chronisch verstopften Vororte und über seine riesigen, chronisch verstopften Brücken, auf denen ebensoviele schrottreife Kleinbusse wie Obdachlose und ambulante Händler verkehren. Wobei auch dieses Hineinfahren nach Lagos vom Flughafen aus am Abend (denn alle internationalen Flüge kommen abends an) kein Vergleich ist zum Unglück des Hineinfahrens aus derselben Richtung am morgen oder mittag, oder gar der Fahrt in der umgekehrten Richtung am späten Nachmittag. Denkt mam beim Hineinfahren nach Lagos am Abend noch, die Mutter aller Staus erlebt zu haben, merkt man zu einer der echten Stoßzeiten erst, warum der Lagosianer zwischen „go-slow“ und „no-go“ unterscheidet.

Das Hineinfahren nach Lagos lässt dem Ankommenden viel Zeit zum Nachdenken, und je nach Mentalität können dies Gedanken sein wie „Warum bin ich hier“ oder etwa „Warum habe ich keinen ordentlichen Beruf gelernt“. Landeserfahrene werden ihre Gedanken jedoch auf den bevorstehenden Hotelaufenthalt richten, denn das Unglück des Hineinfahrens nach Lagos ist eigentlich eine Lappalie gegen das Unglück des Ankommens in einem Hotel in Lagos. Sollte der Ankommende der Annahme unterliegen, dass Übernachtungspreise von 300 Dollar eine gewisse Zimmer- und Servicequalität garantieren, wird er eine klassische nigerianische Lektion lernen: der einzige Grund, warum die Dinge hier kosten, was sie kosten, ist dass es genügend Dumme gibt, die jeden Preis zahlen.

Die Dinge – das sind alle Güter und Dienstleistungen, die sogenannten westlichen Standards genügen sollen, also Hotelzimmer, Mietwagen, internationale Lebensmittel und Zeitungen. Die Dummen – das sind die Ölkonzerne und anderen multinationalen Großunternehmen, die hier exzellente Geschäfte machen und ihre Auslandsmitarbeitern daher problemlos zu Höchstpreisen einquartieren können. Und damit alles andere in den Sog hineinziehen.

Das ist das eigentlich belastende an Lagos: nicht die vermeintlichen Gefahren, die laut den Erzählungen anderer hinter jeder Ecke lauern; nicht der urbane Moloch, den man durch die Autoscheiben hindurch nur erahnen kann; nicht (allein) der Witz an Gegenleistung, die man für sein Geld bekommt; sondern die Tatsache, dass alle Ausländer um einen herum fortwährend zu erkennen geben, dass das Dasein in Lagos eine Zumutung ist und nur unter höchsten finanziellen Zuwendungen ertragen werden kann. Man verbringt die Abende grundsätzlich in den Hotelanlagen zusammen mit den anderen Ausländern, die ebenfalls die Abende grundsätzlich nur dort verbringen. Und beklagt gemeinsam, wie furchtbar alles ist.

Manchmal denke ich, so ähnlich muss es in Bagdad sein: die Korrespondenten sitzen ab dem späten Vormittag mit einem Heineken an der Bar und sinnieren über die Welt außerhalb der Gitterstäbe, die sie nur aus den geringfügisten Stippvisiten kennen. Nur dass die Gefahr in Bagdad eine reale, in Lagos dagegen eine behauptete ist: hätte ich nicht im Reiseführer gelesen, dass es sich um eine der gefährlichsten Städte handelt (was allerdings durch keine Statistik belegt ist; was wiederum natürlich auch nichts heißen muss), hätte ich keinen Anhaltspunkt, mich unsicher zu fühlen. Die Entführungen und Überfälle, von denen man so häufig liest, finden meist in anderen Landesteilen statt, insbesondere den ölreichen Delta-Staaten. In Lagos werden zwar jährlich mehrere hundert Generatoren geklaut, mehrere tausend Autos zu Schrott gefahren und Abermillionen Dollar abgezwackt und veruntreut, aber die Gewaltkriminalität richtet sich selten gegen Ausländer. Jedenfalls kennt auch nach mehrmaligem Nachfragen keiner jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt – ganz im Gegensatz zu Städten wie Johannesburg, wo es niemanden zu geben scheint, der noch nicht Opfer einer Straftat wurde.

Aber die Perzeption alleine genügt natürlich, um die Menschen in den Häusern zu halten. Ein Geschäftspartner sagt mir, es sei schwierig, einen „Internationalen“ zu finden, der bereit ist, in Lagos für weniger als 100.000 Euro zu arbeiten, wohlgemerkt netto und nach Abzug aller Ausgaben vor Ort, inklusive Unterkunft, Hauspersonal, Dienstwagen, allerlei Clubmitgliedschaften sowie ordentlicher Spesenpauschale. Drei Jahre Lagos und dann das eigene Haus anzahlen, so die Faustformel. Und doch finden sich interessanterweise gar nicht so wenige Leute, die auf Dauer hier bleiben. Die jahrelang werktags nur zwischen Büro, Tennisplatz und Compound zirkulieren, wochenends segeln oder golfen gehen und einmal im Jahr nach Hause fliegen. Sogar deutsches Fernsehen kann man irgendwie empfangen.

Doch die Ausländer sind nicht die einzigen, die in Lagos richtig viel Geld an den Start schicken. Das ist vielleicht das bemerkenswerteste im Vergleich zu anderen afrikanischen Städten: die Vielzahl sehr gut situierter Einheimischer, die sich ebenso von der Realität abkoppeln wie die Expatriates. Einer dieser Geschäftsleute spricht mich morgens auf der Straße vor dem Hotelkomplex an, nachdem er gesehen hat, wie ich mir bei einem Stand ein Brot und eine Flasche Wasser gekauft habe. Er fragt: nur so aus Neugier, warum sind Sie darauf angewiesen, Ihr Brot auf der Straße zu kaufen? Als ich antworte, dass ich morgens nicht so viel esse, dass es sich lohnen würde, für 25 Dollar das Hotelbuffet zu buchen, macht er allen Ernstes ein betretenes Gesicht und sagt: oh, I see – very sorry for you.

Das ganze Prinzip Lagos scheint daraus ausgelegt zu sein, dass die Menschen in den Compounds und Hotelkomplexen nie das normale Stadtgebiet betreten. Jedenfalls gibt es selbst in den besseren Gegenden von Lagos fast keine Bürgersteige, auf denen man sie durchqueren könnte. Gibt es doch mal welche, zeichnen sie sich durch äußerst hohe Bordsteinkanten aus, damit die zigtausenden Mopedfahrer nicht auf die Idee kommen, mal locker über den Bürgersteig abzukürzen (was sie allerdings trotzdem tun). Die positive Kehrseite dieser Tatsache ist, dass man abgesehen von Ruß und Staub weitgehend unbehelligt durch die Straßen laufen kann, weil sich die Bettler, Händler und Kleinkriminelle völlig auf die im Stau stehenden Autofahrer konzentrieren. Insofern ist das Laufen durch Lagos in der Praxis wesentlich angenehmer als das Laufen durch die meisten anderen afrikanischen Städte – bis auf das latente Gefühl, dass man etwas tut, was man nicht tun sollte.

Wenn aber das Ankommen in Lagos in der Regel ein Unglück ist und das Dasein in Lagos eine Zumutung, so ist die Abreise aus Lagos überhaupt erst die eigentliche Herausforderung. Da alle internationalen Flüge in den Nachtstunden abheben, wird der Abreisende etwas verwundert von seiner Fluglinie erfahren, dass die Check-in-Schalter schon um 21.00 schließen. Hintergrund dieser natürlich falschen Information ist, dass niemand auf die Idee kommen soll, sich erst kurz vor dem Flug auf den Weg zu machen. Die 30 Kilometer aus den besseren Gegenden von Lagos bis zum Flughafen können nämlich je nach Verkehrslage bis zu zwei Stunden dauern, an guten Tagen jedoch nur 40 Minuten. Ist der Abreisende dann entweder viel zu früh oder total gestresst am Flughafen angekommen, wird er feststellen, dass vor der Erlaubnis zur Ausreise eine Vielzahl von Formularen, Kofferdurchsuchungen und Demütigungen (sind das Ihre Socken?) steht. Besonderer Augenmerk liegt dabei auf der Frage, ob der Ausreisende nicht etwa verbotenerweise Lokalwährung oder antike Fundstücke außer Landes bringen möchte – beides ist bekanntlich im Ausland äußerst gefragt.

Hat der Ausreisende diese Hürden überwunden, steht ihm die eigentliche Prüfung jedoch erst noch bevor. In der sogenannten Business Class Lounge seiner Fluglinie wird er sich gedanklich auf die Heimreise einstellen können – gemeinsam mit seinen zahlreichen Mitreisenden, die das Ende der Zumutung Lagos mit den bereitgestellten Wodka- und Whiskeyflaschen im Selbstausschank begießen. Gegen 22 Uhr fangen die ersten an, das Personal anzupöbeln. Gegen 23 Uhr lädt die Fluglinie zum Boarding ein. Einige Passagiere sind so betrunken, dass man sie in anderen Gefilden wohl eher nicht an Bord gelassen hätte – aber in Lagos möchte man niemanden zurücklassen, daher zeigt die Crew ungewohnten Langmut. Gegen Mitternacht setzt sich der Flieger in Bewegung. Einige singen noch, andere haben schon Leberkrämpfe. Zum Glück haben alle Härten irgendwann ein Ende.

Monday, November 05, 2007

Ambrosi (Krakau - Georgien)

Ambrosi kocht seine Frühstückseier in der Zeit zwischen spätem Morgen und frühem Nachmittag, meist sind es zwei oder drei, in einem kleinen Edelstahltopf. Wenn sie fertig sind, trägt er sie in dem Topf aus der Küche in sein Zimmer. Dabei klackern die Eier aneinander und an die Topfwand. Ambrosi strahlt eine Art konsequenter, jedoch nicht gewollter Einsamkeit aus, dass ich es kaum über mich bringe, ihn anzusprechen.

Im Englischen verwechselt er yesterday mit tomorrow.

Do you will go to cinema yesterday?

Und so kommt jede Begegnung, schon als Möglichkeit, immer zu spät. Die Gegenwart wird übersprungen.

Do you was in town tomorrow?

Manchmal sitzen wir alle bei Wodka zusammen. Dann löst und lähmt uns Zubrówka die Zunge (ja, gleichzeitig). Unser Sprechen fällt durcheinander; auf dem Wellenkamm der Sätze schwimmt (wie Gischt), Sehnsucht. Alles scheint möglich (aber nur in einem extra Raum im Raum, in einem Jokerraum, an den man zufällig zur richtigen Zeit aus Versehen mit dem Kopf stößt, dann öffnet er sich). Gleichzeitig ein loses Schnattern, ein Einsammeln von Zeitvertreib und oft versteht man auch schon rein akustisch nicht, worum es überhaupt geht, aber das macht gerade deshalb nichts.

Seine Weisheit könne man nicht in eine andere Sprache übersetzen, hat Mirek gesagt. Und ich hab ihn dann nachts halb vier noch angerufen, um ihm zu sagen, dass wir ja alle allein sind jetzt, in unseren jeweiligen Räumen.

Thursday, October 25, 2007

Domwe

Licht-Brösel
ins Wasser gestreut, das fasernde Seegras

ein reihergleicher Vogel (barockschön)
bethront eine Boje

jetzt plustert sich der Wasser-
Rand, Kopf eines klumpigen Tieres
(der durchaus auch schön ist)

Trübung der Wasserfarben, des ausgewundeten Auges?

eine Welle fällt vom Ufer und zurück
Fisch-Splitter, deine ziselierte, sich verlierende Spur

Wednesday, October 24, 2007

Tote Blätter & Prückelstrafe



M. und ich sitzen in der Sehnsuchtsmaschine Auto, ein Begriff, den wir auf der Autobahnraststätte Mondsee für uns geprägt haben, bei der ersten Melange nach Überschreiten der österreichischen Grenze. Der vernebelte Mondsee hat uns melancholisch gestimmt, die Verbesserung von Mitteleuropa scheint unmöglich. Wir befahren den Höhepunkt jeder Reise nach Wien, das heruntergekommene Stück Westautobahn mitten im Wienerwald, zwischen Pressbaum und der Hauptstadt. Platzregen setzt ein. Wir hören Yves Montand, Les feuilles mortes, auf Kassette, eine Live-Aufnahme, volle Lautstärke. Die Weltbühnenarbeiter schieben prächtige Herbstkulissen an uns vorbei und werden verlässlich dafür sorgen, dass all die gelben und roten und braunen Blätter an den Bäumen bald tot sein werden. Bitte noch einmal, noch einmal, kreischt M., als der tosende Applaus abklingt, und spult zurück zu der Stelle, wo eine männliche Stimme aus dem Publikum das soeben gehörte Lied einfordert, und Yves Montand sagt trocken: Ja. Platzregen setzt aus. Runterschalten, vierter Gang. Die Autobahn mündet im Stadtverkehr, ohne Abfahrt. Abbremsen, dritter Gang. Dann die erste Ampel seit vielen Stunden, rot. Die Sehnsuchtsmaschine bleibt stehen.

Am nächsten Tag genieße ich die lang ersehnte Café Prückelstrafe. Wo in der Welt könnte man schöner schlecht behandelt werden als in einem Wiener Kaffeehaus?

Wednesday, October 17, 2007

Marfa

wie sie über der Hüfte ihr Rock-Tuch festzurrt
zieht zu enger werdenden Kreisen
sich, eine Winde, schräg in die Luft stellt

wie sie so zum Stehen kommt, ragt ihr Gesicht
in die Grenze zwischen zwei Ton-Feldern

sie hält dort lange still : nichts an ihr flirrt
(wie Narzissen flirren)
kurz aber leuchtet sie auf

hält dann die Hand ihrem Mund an
geschnittenes Blatt

unverbundene Ränder

Paje

durchs Strandbild läuft gerade eine Bordüre
kopflose, ineinander verzerrte Rinder
scheren die eben noch auswachsende Weißweide
den eben noch Blauanstrich :

er verweigert sich zunehmend den Blicken
lagert sich möglicherweise ein in den Rändern
(ist möglicherweise im Begriff dies zu tun)

die Touristen hängen den Rindern an
wie und nicht nur wie einer Erscheinung

wahrscheinlich lichtete sich jetzt, lägen nicht Dhaus
im (wäre es) Wasser, etwas Geheimnisloses

(wie Schnee-Sporn)

Monday, October 15, 2007

Lagos, immer wieder Lagos

Seitdem ich beruflich nach Lagos reise, sagt die Wettervorhersage immer dasselbe:

Geändert haben sich dagegen die Einreisebestimmungen. Um den großen Massen Herr zu werden, die in Nigeria Urlaub machen oder in die sozialen Sicherungssysteme einwandern möchten, hat der Staat ein zentralisiertes Online-Visumsantragssystem eingerichtet. Dieses System eignet sich zwar sehr gut zur Belastung der eigenen Kreditkarte, deutlich weniger gut aber für den Erhalt eines Visums. Daher sind nun in meiner Firma drei Mitarbeiter einen halben Tag lang damit befasst, die technischen Voraussetzungen zu erfüllen, um den Antrag gegen den erbitterten Widerstand des Systems abzuschicken. Ebensoviele Leute sind wiederum in der Botschaft der Bundesrepublik Nigeria damit befasst, die Angaben des ausgedruckten Online-Antragsformulars in das alte Offline-Formular zu übertragen, damit er bearbeitet werden kann. Und wiederum drei Leute sind im Flughafen Lagos damit ausgelastet, meinen Reisepass bzw. den darin enthaltenen Visumsaufkleber zu analysieren und abzustempeln.

Halny (Krakau)



Auf dem Parkett liegt ein eingetrocknetes Blatt, von dem ich erst dachte, es sei eine winzige Kröte. Seine Ränder sind nach innen gewölbt, als habe es sich zusammenziehen wollen, um sich auf diese Weise fortzubewegen und sei dann in dieser Bewegung erstarrt. Eine eigenartige Form herbstlicher Schwüle liegt im Zimmer. Die Bäume draußen biegen sich unter starkem Wind, den man kaum hört.

Ich wechsle meine Bettbezüge und sehe, dass ich die ganze Zeit auf einem Tigerkopfkissen geschlafen habe. Der Tigerkopf, grob gedruckt in braun-weiß, befindet sich nicht auf dem Kissenbezug, sondern auf dem Kissen selbst. Im Hintergrund des Tigerkopfes riesige Palmen, Farne und die Andeutung eines weiteren Tigers. Darauf habe ich geschlafen. Leicht und weiß kreisen ein zwei Gedanken immer wieder um meine Stirn, wie Fliegen.

Es sind Fliegen.

Draußen durchziehen Magnetfelder die Luft, einander anziehende, einander abstoßende. Der Wind hat genau dieselbe Temperatur wie seine Umgebung. Meine Haut, unter dünner Kleidung, ist elektrisch aufgeladen. Halny. Fallwind von der Tatra. Macht alle verrückt, ohne dass sie es bemerken. Es sind Haarrisse von Verrücktheit, die sich durchs Hirn ziehen.

Die Frau, die das Holz stapelt, drüben am Pferdehof, ich sehe sie zum ersten Mal. An der Längsseite des Stalls stapelt sie kleingeschlagenes Holz. Sie läuft in kleinen, schnellen Schritten hin und her zwischen einem großen Haufen Holz und dem Stall. Ihre Kittelschürze, ihr großer Pullover und ihr lose hochgestecktes Haar wehen im Wind. Sie ist alt. Sie singt und spricht vor sich her, und das wird alles vom Wind sofort weggenommen.

Halny ist aufsässig. Aber nichts geht an ihn verloren. Dadurch ist die Luft so dicht. Das Licht ist weich und trüb in den Wind integriert.

Von allen Richtungen fliegen Blätter auf mich zu. Sie bleiben um mich herum liegen, auch auf mir; an meinem Pullover kleben schon vier. Sie sind klein und trocken; sobald ich sie anfasse, fallen sie auseinander.

Die alte Frau hat immer nur einen Holzscheit in die Hand genommen. Sie ging mit dem Holzscheit zur Wand. Das Holz war schon hoch aufgestapelt. Ein Fenster des Stalls war bereits zur Hälfte dahinter verschwunden. Sie musste sich recken, um den Scheit oben auf legen zu können.

Sie erzählte mir etwas, über den Zaun hinweg, als ich vorbeiging, auf dem Weg zum Park. Ich verstand ja nichts. Ich sagte tak tak und sie lächelte mir freundlich zu, erzählte weiter, sang, nahm den nächsten Scheit.

Das Tigerkopfkissen liegt jetzt im Schrank unter den Handtüchern.

Halny dauert meist nur einen Tag, selten zwei.

Transliteration (Krakau - Ukraine)


In kyrillischen Schriftzeichen hinterließ L., die ukrainische Übersetzerin, hoch und biegsam, eine Nachricht auf einem Zettel, an die Spüle gelehnt, mit zwei Ausrufungs­zeichen. Keiner transliterierte diese Nachricht.

Manchmal, wenn L. in Musik gekleidet am Abend in der Küche steht, sehr dünne, feste Zigaretten raucht, Marke Iris, und ihre enge helle Kleidung trägt, ist sie schön, geheimnisvoll und jung. Dann unterhält sie sich in ukrainisch mit Tania und Andrej, sie läuft umher, holt aus dem Schrank ukrainischen Schnaps, schüttet ihn in einen Topf und zündet ihn an. Beim Reden lacht sie hin und wieder, aus dem Schnapstopf flammt es blau und gelb. Der ukrainische Wodka ist ausgetrunken. Mirek hatte ihn mit Wasser abgelöscht. Der georgische Wodka von Ambrosi ist auch nicht schlecht. Dog in the fog ist süßes trübes Kopfschmerzbier.

Manchmal, wenn L. in ihrem Jogginganzug am Tag in die düstere Küche tritt, um sich einen Tee zu machen, ist sie ein alter, ausgedünnter Geist, der seine Energie in einer Hand zu tragen scheint wie eine Waffe, die gerade nicht benutzt wird, aber jederzeit einsatzbereit ist. Ihre Arme hängen herab, nur ihre Augen bewegen sich, wie die einer Eule, in den Höhlen hin und her.

Faltenlose, weiße L.

Wednesday, October 10, 2007

Nkhata Bay

Rinden-Striche in Kies, Naht
tiefe Blattkurven, -Narben
Gewölbe eines Bootes

die schale Farbschicht
wirft Schrift-Risse
anbei befaulte Palmbank
Absteg zum See

der Nacht-Flucht der Mango
reift (unbestimmtes) Licht nach

Cape McLear

die ebenmäßigen Fische
werfen jetzt kleinere Scharten
ins Schilf-Licht, fast nichts
übersehbare Echsen divers
in Holz skizziert :
unberingte, unberindete Masken

die Zeichnung des Nachtwächters
kippt aus dem Rahmen, stutzt
surrt, ein vielleicht Generator, moskitohaft an

Sunday, September 30, 2007

Fünf Anfangssätze für fünf Romane über Island

1 Herr Island trat aus seinem Haus in seinen Gemüsegarten, der Himmel war wie jeden Morgen auch heute da, und die Tomaten schienen über Nacht an Röte und Größe gewonnen zu haben, so dass Herr Island den Entschluss fasste: es reicht, es reicht jetzt wirklich.

2 Ich kann nicht mehr rekonstruieren, wer zuerst auf die Idee kam, wahrscheinlich war es Zinke, es könnte aber auch Manuel gewesen sein - Manuels kreative Energien hatten meistens mit dem Verschwinden der Dinge zu tun -, doch heute, am 29. September 2007, und hier, auf einer verstaubten Straße im Süden von Peru, auf der Flucht vor der internationalen Justiz, scheint es mir wichtiger denn je, mich an den Tag zu erinnern, an dem wir geschworen hatten
, Island zu sprengen und für immer zu versenken.

3 Eine Woche nach der Geburt seines Sohnes, wachte Michael aus unruhigen Träumen auf, küßte seine schlafende, schöne Frau auf die Schläfe, schrieb auf ein Post-It, "Fänd ich wirklich besser, wenn wir ihn Leo genannt hätten", und bestieg das erste Flugzeug, das noch freie Plätze hatte, eine Maschine der Icelandair.

4 Ich habe mir zur Lebensaufgabe gemacht, isländische Flora und Fauna auf den Stand vom Erzgebirge zu bringen.

5 Wir prügelten uns jeden Donnerstag Abend ab sieben Uhr auf dem Parkplatz vor dem Hagkaup, die Mädchen mussten immer das meiste einstecken, wurden aber besser mit der Zeit, wir gingen, seit wir vierzehn waren, alle zu demselben Psychiater, Professor Þórðarson, der erotische Beflügelung für Nazi-Frauen empfand und aufgrund eines seltsamen Gendefekts keinen Geruchssinn besaß, wir frühstückten nichts mit Ypsilon im Namen, und an Bjarnis achtzehntem Geburtstag liebten wir uns bisexuell zu acht, die Orgie dauerte sieben Stunden, das musste einfach raus und war uns am nächsten Tag sehr unangenehm, wir hörten Björk und schämten uns schweigend und verkatert.

Wednesday, September 26, 2007

Auf nach Bremen.



Weltwohnen in Bremen.
Lesung im Rahmen des Netzschreiber-Stipendiums.
Donnerstag, den 27. September, 20 Uhr
Stadtbibliothek Bremen
Am Wall 201

Der Eintritt ist frei.

Weitere Informationen hier:
http://www.literaturhaus-bremen.de/site/home.html

Sunday, September 23, 2007

Zlarin



Das“, sagt Ante und zeigt auf eine Fotografie an der Wand, die wirkt, als haette jemand den kleinen Hafen bei einer Antikbootmesse geknipst, „ist Zlarin vor hundert Jahren.“ Ich ueberlege, ob ich ihn bitten soll, mit mir vor die Tuer zu treten, zu eben jener Stelle, wo vor hundert Jahren jemand seinen Hafen verewigte. Dort koennten wir gemeinsam auf den Ausloeser meiner Handykamera druecken und das Foto anschließend neben seinen alten Zwillingsbruder halten. Ante legt den Kopf schief und grinst abwechselnd mich und die Fotografie an, als haette er uns bei einer Verschwoerung ertappt. Die Kirchenglocke mischt sich in mein stummes Selbstgespraech ein: Jemand scheint mit einem Holzloeffel und einem Blech die volle Stunde in die Bucht hinunter zu schlagen. Mit jeden Schlag halte ich es fuer moeglicher, eine unabsichtliche Zeitreise unternommen zu haben. Ante und seine Frau Karmela, faellt mir jetzt auf, sind, von zwei doesenden Katzen einmal abgesehen, die einzigen Lebewesen, die mir hier bislang begegnet sind. Ungeruehrt geht Ante mit meinem Reisepass und einem dicken Gaestebuch ins Wohnzimmer, laesst sich in ein Sofa fallen und schlaegt mit der rechten Hand auf die leere Sitzflaeche neben ihm. „Deutsch“, murmelt er und betrachtet das rote Buechlein, „viele Gaeste. Italien. Frankreich.“ Ich nicke und betrachte die dunkle Schrankwand samt dazugehoeriger Porzellanfiguren, die eindeutig einem anderen Jahrhundert als die Fotografie entstammen. Beim lauten Lesen meines Nachnamens zieht Ante interessiert die Augenbrauen in die Hoehe. „Aus Polen, richtig“, bekraeftige ich und sehe zu, wie eine fremde Handschrift meinen Namen schreibt. Feierlich, als wuerde er mir sein Familienalbum zeigen, schlaegt Ante das Buch zurueck, tippt mit dem Finger auf die Namen anderer deutscher Besucher und erzaehlt bruchstueckhafte Anekdoten. Dr. Breuninger scheint ein Mann mit kugelfoermigen Ausmaßen gewesen zu sein, der am liebsten im Wasser lag, seine Ulla hingegen eine wellengleiche Frau, die sich vor allem für Olivenbaeume und Granataepfel begeisterte. Ante lacht in sich hinein, als koennte er noch ganz andere Geschichten erzaehlen. Ich bemerke die Weintrauben auf dem Tisch und frage, ob es seine seien. Ploetzlich strahlt sein Gesicht; er springt auf, laeuft zur Tuer hinaus und kommt mit einer Weinflasche und zwei Glaesern zurueck. Ich traue mich nicht, das Angebot abzulehnen, obwohl die Nachmittagssonne und mein leerer Magen aehnliches erwarten. Erwartungsvoll schaut Ante mich an. Ich nippe, laechle, sage „sehr gut“ und rechne mir ebenso gute Chancen aus, in sein Buch als guten Geschmack einzugehen. Mit ausladenden Handbewegungen und wenigen Worten beschreibt er mir den Stolz des eigenen Weinanbaus, ruft ploetzlich: „Sarah“ und „njemacka“, lacht, als haette das eine mit dem anderen nicht das geringste zu tun. Ich werde muede von so viel Enthusiasmus, zeige auf meinen Rucksack und auf meinen Bauch. Er schiebt mich immer noch lachend zur Tuer. Auf der Treppe nehme ich Karmela das Bettzeug ab. Sie winkt mich in mein zukuenftiges Schlafzimmer, oeffnet die Fensterlaeden und drueckt meinen Oberkoerper hinaus. Die Sonne haengt wie ein matter Scheinwerfer zwischen den Huegeln und erzeugt lange Schatten. Ein Kutter gleitet durch tuerkise und blaue Flecken in den Hafen. Das Foto koennte auch von hier geschossen worden sein. Am Kai steht ein Hund und schuettelt sich, bevor er zu seinem Herrchen aufs Boot springt. Karmela klopft mir auf die Schulter und geht nach unten.




Monday, August 13, 2007

Flugangst und Kontrastprogramm.


Frankfurt – Paris in vier Stunden, der ICE beschleunigt kurz hinter Saarbrücken. Dreihundert Stundenkilometer kann ich irgendwann nicht mehr scharf stellen, hinter dem Zugfenster fädeln sich Blätter, Grashalme und Kieselsteine aneinander, sauber gezogen wie mit dem Lineal. Nur am Horizont erkenne ich Höfe, Baumgruppen, am Himmel versucht Air France vergeblich, uns zu überholen. Einen Meter unter meinem Sitz vibrieren die Räder über neu verlegte Schienen, ich ermutige meinen Sitznachbarn: „Wenn wir jeder einen Arm aus dem Fenster halten, du links und ich rechts, heben wir ab.“ Mein Sitznachbar ist ein achtjähriger Junge, der keine Platzreservierung hatte. Die ist auf der Strecke Frankfurt-Paris Pflicht. Er wurde vom Schaffner getadelt und zur Nachzahlung von fünfzehn Euro aufgefordert. Kurz darauf weinte der Junge still und gedemütigt, jetzt kann er wieder lächeln. Er sieht aus dem Fenster, schaut dann auf meinen Arm. Er lächelt mich aus. Kurz hinter Bondy bremst der Zug uns tief in die Sitze, ich sehe aus dem Fenster und weiß sofort: Steinhäuser mit Pariser Balkonen vor ihren lang gezogenen Fenstern sind nicht beeindruckt von der weißen Schlange, die jetzt durch den Ort zischt. Langsam rollen wir ein, Paris Ostbahnhof, 14:11. Ein amerikanischer Tourist zündet sich gleich am Bahnsteig eine Zigarette an und wird vom Schaffner zurechtgewiesen. Als Texaner verstehe ich kein Französisch, sage laut Sorry und ziehe meine Zunge beim R übertrieben weit in den Rachen. Der Schaffner winkt ab, ich folge den Hinweisschildern: Metro.

Die Linie 4 soll mich bis Montparnasse bringen, dort will ich umsteigen, kurz vor der Haltestelle Cité stoppt die Bahn plötzlich. Eine Einsatzgruppe der Polizei verbiete die Weiterfahrt, man habe die Station Cité gesperrt, informiert uns eine merkwürdig feierliche Stimme aus unsichtbaren Lautsprechern. Mein Gegenüber, ein dunkelhäutiger Mann mit weiten Hosen und IPod-Kopfhörern, die in der Innentasche seiner Jeansjacke verschwinden, schwitzt augenblicklich seine Angst zum Ausdruck. Mit der Handfläche fächelt er sich Luft zu, die schon nach einer Warteminute so dünn ist, dass ich überlege, ob ich im Notfall zwischen Waggon und Wand des U-Bahnschachts passe. Zwei Kleinkinder haben auf genau diesen Moment gewartet und weinen begeistert durch den Fahrgastinnenraum. Wir sitzen gute zwanzig Minuten. Dabei kommen wir uns näher, wenn näher kommen bedeutet, dass man sich riechen lernt. Ich rieche Christen, Buddhisten, Islamisten, ich rieche Dutzende Nationen und die jeweilige Art, mit einer Stresssituation umzugehen. Als ich mich meiner Verantwortung nicht mehr entziehen und eine Zugrevolte anführen will, fährt die U-Bahn wieder an. Sofort ist die Luft besser, ich schließe die Augen. Am Bahnhof Montparnasse weiß ich dann wieder, warum ich gegen Beton bin. Dunkelgraue Deckenplatten hängen tief über unseren Köpfen, ein paar Tauben kunstfliegen zwischen den Umsteigern hindurch. Ich überlege, wem ich mich erklären könnte und verpasse beim Suchen beinahe den Anschluss, 16:34 nach Lorient. Wagen 11, Erste Klasse, ich hechte in die Tür, die sich gleich darauf zischend schließt. Im französischen TGV bedeutet Erste Klasse ein höchstens menschenwürdiges Maß an Beinfreiheit, der Aufpreis beträgt zehn Euro. Die Sitze des TGV aus Plastik, sie lassen sich nicht zurückstellen und sind in der Zweiten Klasse so eng aneinander geschraubt, dass man sich wünscht, im Flugzeug zu sitzen. In der Ersten Klasse ist heute jeder Platz belegt, die Fahrgäste verflüstern einander die Zeit, wenn ein Handy klingelt, steht der Angerufene auf und geht aus dem Waggon. Ich lege meinen Kopf an die Scheibe und will einschlafen, sofort kommt der Schaffner. Kurz darauf erinnert mich meine Blase, warum man auf Reisen keinen Kaffee trinken sollte.

Die Toilette des TGV ist so klein, dass ich mich um die Tür herumwinden muss, aus dem Gleichgewicht gerate und mich am Waschbecken festhalte, um nicht zu stürzen. Im Spiegel kann ich mir bei diesen ungelenken Bewegungen zusehen und mich lächerlich finden. Bevor ich erledige, wozu ich gekommen bin, muss ich Notizen machen. „Ein bis zwei Quadratmeter, Dixieklogeruch, bräunlich verfärbte Brille, Kaugummis auf dem Fußboden, kein Witz: Die Erste Klasse Toilette des TGV.“ Ob man das als Tourist charmant nennen darf? Um halb Neun erreichen wir Lorient, auf den Straßen betrinken die Kelten einen historischen Feiertag, der Rock für den Mann ist hier Testosteronzeugnis. Wo ich auch hinsehe: stark behaarte Waden. Später in Larmor Plage zaubert die untergegangene Sonne ein zartes Rosa an den Abendhimmel, die Assiette de Mer ist vorzüglich. Kontrast ist etwas, das ich mir lobe.

Tuesday, July 17, 2007

knapp elf jahre her

Heute ist ein besonderer Tag, heute soll das Wasser kommen. Heute morgen zertritt Svensson Ameisen und Spinnen, er fegt die Schlafräume und den Hof, er trinkt den zuckersüßen Kaffee. Svensson ist dünn geworden, er hat zwei Wochen Erbrechen und Durchfall hinter sich, er hat drei Nächte neben der Toilette gelegen. Er trägt jetzt Freundschaftsbänder um die Handgelenke wie alle Europäer in der Fundacao Ajuda, für die Gesundheit, für das Glück. Um elf nehmen die beiden den Pick-Up und fahren in die Stadt. Sie kaufen Trinkwasser, drei Sack Beton und zwei Eisenstangen für die letzten Stufen zum Wasserturm. Sie kaufen Bier und eine Flasche Champagner. Svensson und Felix arbeiten Hand in Hand, sie sägen, zimmern, nageln. Auf den Gleisen hinter der Fundacao Ajuda de Nossa Senhora sitzen die Schienenkinder mit ihren Plastiktüten und Klebstoffbüchsen, im Hof stehen die Hungrigen barfuss Schlange, es gibt Fejuada und Reis, Oi, Gringos sagen sie zu Svensson und Felix. Um halb zwölf sind die Stangen gebogen, vierzehn Metallhaken bis ganz nach oben, den letzten bringen sie gegen zwölf an. Sie überprüfen die Rohre hoch zum Reservoir, sie lassen die Pumpe Probe laufen. Dann steht der Wasserturm, sie haben zwei Monate dafür gebraucht. Der Wasserturm ist ein großes Blechfass auf vier Beinen, in Beton gegossen und neun Meter hoch. Er steht mitten in der Rua do Lixu: gegen den Dreck im Viertel, gegen die Vergiftungen, gegen die Bakterien, gegen das Sterben der Kinder. Felix ist zwei Monate jeden Tag mit dem Pick-Up in die Stadt gefahren und hat mit dem europäischen Geld Beton gekauft, Rohre, Holz, Drahtgitter. Die Leitung verläuft illegal über das Feld zwischen Rua do Lixu und Seraverde, vierhundert Meter Plastikrohre zwanzig Zentimeter unter dem Staub, von den Tagelöhnern in der Dämmerung vergraben, die staatlichen Leitungen nur inoffiziell angezapft, Santos hat die Schlüssel gegen eine freundliche Spende zur Verfügung stellen können. Die Pumpe läuft mit Diesel. Für eine geringe Gebühr, Compadres, hat Santos gesagt, würde ihm und Lula das alles gar nicht auffallen. Alle haben geholfen: David kann schweißen, Svensson kann Beton rühren, Felix kann im Gerüst hängen und die Tagelöhner dirigieren, das Buch in der Hand, "Water-Supply-Systems for Home Farming" von Williams/Steynman, Seite 27 bis 35, einfach ungefähr alles mal drei.

Heute ist ein entscheidender Tag, heute wird Seraverde blau oder rot, heute stehen in ganz Pernambuco Wahlen an. Die Blauen und die Roten haben blaue und rote Trio Eléctricos auf die Plätze der Stadt gestellt, Sattelschlepper mit Bühnen und Boxen, durch die Straßen fahren rote und blaue Volkswagen Käfer mit Megaphonen, sie verkünden ein rotes und ein blaues Fest: heute abend Freibier und Fohor, heute abend Schnaps! Wählt die Blauen! Wählt die Roten! Auch in der Rua do Lixu wird entschieden, es gibt Schnaps und Versprechen gegen Stimmen: wählt ihr uns, meus Amigos, gibt es zwei Sack Beton pro Kopf! Der Bezirkspolizist Santos ist der Kandidat der Roten für die Rua do Lixu, der Arbeiterpartei PT, überall sieht man Bilder mit seinem Schnurrbart, an Wänden, Autos und Eselkarren. Warum ausgerechnet der Polizist?, fragt Svensson und Felix vermutet, es wird an seiner Arbeit liegen, Santos kennt jeder, alle haben ihn schon bezahlt. Gegen Nachmittag ist Santos noch einmal durch die Straße flaniert, Lula heißt Lula nach unserem nächsten Präsidenten, hat er gesagt, Lula da Silva, merkt euch diesen Namen! Der weiße Hund trägt ein rotes Halstuch. Wählst du mich, Compadre, lasse ich deine Hütte decken, Compadre, mit den guten Ziegeln! Blaue und rote Kinder spielen Krieg, ihre Väter trinken Cachaza. Wetten, Svensson?, fragt Felix, ich setze auf die Roten. Gegen Mittag schlachtet Svensson zwei Hühner, das gleichmäßige Schleudern und präzise Kopf-Ab mit dem kleinen Beil hat er von David gelernt, zur Feier des Tages gibt es Knoblauchhuhn mit Koriander und Piment. Um vier holen die Mütter die Kinder, um fünf werden die schweren Eisentore geschlossen, der Padre spricht sein Abendgebet, er öffnet eine Flasche Antarctica und verteilt die Gläser. Alle sitzen um den runden Tisch im Hof, der Padre, David, Ailton, Lucinda, Cris, Felix, Svensson, Ivan. Urinating is good for you, sagt der Padre nach dem dritten Bier. Heute ist ein besonderer Tag, heute spielt das Radio Girl from Mars, heute wehen Merengue und Fohor von den Trio Eléctricos herüber, heute klopft es mitten im Beten und Zuprosten leise an die Stahltür der Fundacao Ajuda de Nossa Senhora. David öffnet und im Staub der Rua do Lixu steht eine kleine blonde Frau mit Rucksack und ohne Schuhe. Ich bin Tuuli, sagt sie, ich bin freiwillig hier.

Thursday, July 05, 2007

tel aviv

befremdung durch das verhalten eines anderen menschen (eine dunkelgelockte junge frau in einem gelben trägerkleid weint kompromißlos in ihr telefon) an einem, mir bis gerade eben fremden ort (garten des cafés sonya gaetzel shapira), wo wir uns jeweils alleine und in keiner weise zueinander verhalten haben, und dann klingelt ihr telefon (eine schöne frau, die weint, auflegt und die hand über die augen legt) und ich verstehe kein wort.

andrew ist engländer, hat ein semester philosophie studiert und lebt seit drei monaten in tel aviv; er bestätigt sich das regelmäßig in seinem blog, die besucherzahlen steigen kontinuierlich, eine australische zeitung habe ihn neulich kontaktiert, ob er sich eine “richtige” (universeller code: das aufhängen der anführungsstriche mit zeige- und mittelfingern in der luft) kolumne vorstellen könne (gelacht habe er, sich aber auch geschmeichelt gefühlt). “Every morning”, sagt er, “I give myself a new task for the day - it’s like an urgent question in need for an answer - I blog the answer!” (”talk to a local about his joys and worries without mentioning your own”).

zwei jungs kaufen in einem supermarkt eine kartoffel und eine packung strohhalme. es ist spät in der nacht.

alleine reisen: eine ständige auseinandersetzung mit dem eigenen verhalten und mit dem hinterfragen des eigenen verhaltens und mit dem beobachten des hinterfragens des eigenen verhaltens (alleine an einem ort sitzen, an dem nicht alleine sitzen wesentlich angenehmer und angebrachter wäre, unter bäumen, auch palmen, in einem kleinen hinterhof, in dem eine schöne weinende frau aufsteht, um zu zahlen).

“go to a cultural event and afterwards meet someone involved.”

mit jemandem unaufälligen unterwegs sein (mit mir).

nur von teelichtern beleuchtet und vom weichen hebräisch vertont, gärten, hinterhöfe, frisuren. ich bin ein auf spiel konzentriertes kleinkind (beobachte, notiere, trinke, esse - hauptsache: zu tun haben, denn hat man zu tun, stört man weniger), denn spielt man, hindert man seine körperhaltung daran, tatenlos auszusehen.

in yafo am strand: eine junge nonne und ein junger soldat waten durch das seichte meer, sie schürzt ihr schwarzes Gewand über die Knie hoch, er trägt eine kurze olivgrüne hose (nicht alles resultiert aus einer laune, vieles ist schlicht und einfach bullshit).

der alleinreisende (ich) ist abends auffälliger, mißt einem kurzen gespräch mit einer kellnerin eine wahnsinnsbedeutung bei.

“eat something typical for israel, ask what it is, teach yourself how to prepare it.”

mein beitrag zu den legenden über das schreiben: schreiben/notieren/recherchieren führt unterwegs dazu, dass man sich selbst in geringerem umfang als ausgangssituation fürs nachdenken nimmt, dafür mehr die anderen bei ihrem nachdenken und einander beobachten und miteinander magisch kommunizieren kommentiert; eine art dialog entsteht, man führt ihn mit den entworfenen figuren (dem englischen blogschreiber), die figuren kratzen sich, harren konflikte aus, man bezieht sich dazu (zu ihren problemen) und schlägt so die zeit erfolgreicher tot als mit schüchternheit.

alisah beginnt ihren nächsten satz mit: “das klingt jetzt vielleicht etwas faschistisch, aber”, und es folgt eine kleine patriotische einlage zum land, zum kampf, zur abgrenzung vom islam usw. auf alisahs handgelenk - ein rotes blumentatoo (schlecht auszumachen im dämmrigen licht dieser schönen bar namens ginzburg).

leise sprechende sprecher sprechen sich vor einer kulisse aus bauhaus-gebäuden (helles rosa, beige) aus, eine katze kitzelt die tischbeine, schokoladensouffle mit vanilleeis (wie das schmeckt, heiß und kalt!), auf autowaschen wird nicht wert gelegt, in den fenster klemmen kleine blauweiße fahnen, und auch heute keine waffe in meiner tasche, ach tel aviv, shht, ein mittelmäßiges fernseh-drama im hotelzimmer, eine schale mit früchten, auch getrockneten, ganz in der nähe, und alisah mag die achtziger-musik.

“diskuss the political situation in middle east with somebody you meet for the second time, but then direct the conversation to something completely different, soccer or sunburn or being alone for example.”

Wednesday, July 04, 2007

Ausgezeichnetes Weltwohnen.



Mehr Informationen unter:

http://www.literaturhaus-bremen.de

Wednesday, June 20, 2007

Jemen oder die große Verwirrung

Die meisten Menschen würden wohl der Behauptung zustimmen, dass es ziemlich ärgerlich ist, nach Jemen zu reisen, dort mehrere Tage ausschließlich in abgeschirmten Stadthotels zu konferieren, dann eine zweistündige Stippvisite in die Realität zu unternehmen und schließlich wieder zurück zu fliegen.

Leider gehören Ärgernisse auch zum Broterwerb. Also wieder mal kein Murren. Stattdessen die 2 Stunden für eine Primärerhebung in der historischen Altstadt von Sana'a genutzt.

a) Anteil der Männer am Volk auf den Straßen: 90%
b) Anteil der komplett verschleierten Frauen an insgesamt zirkulierenden Frauen: 90%
c) Anteil der Männer, die einen Krummdolch am Gürtel tragen: 95%
d) Anteil der Männer, die im Laufen einen Batzen Qat* in der Backe mit sich führen: 100%
e) Anteil jemenischer Staatsbürger am Servicepersonal der 5-Sterne-Hotels: 25%

e) soll übrigens daran liegen, dass der Jemenit es gerne etwas relaxter angehen lässt, was die Arbeitszeiten anbelangt. Was wiederum an d) liegen soll und zudem ein Grund dafür ist, weshalb die Krummdolche meistens im Halfter bleiben.

Nach zwei Stunden eines zutiefst soziologischen Tourismus in der grandiosen steinernen Altstadt und einigen Ausflügen in die sogenannten Mafratsche (aka Wohnzimmer) einiger ausgewählter Einwohner war es das dann auch schon wieder - bzw. wäre es schon wieder gewesen, denn der berühmte Langmut des Jemeniten zeigt sich auch in der Lebensmittelhygiene, wodurch einige meiner zentralen Organe erstmal eine Sonderschicht einlegen mussten.

Schließlich hat mich das Land aber doch gerade noch so wieder ausgespuckt, so dass ich nun wieder in Berlin sitze und mich immer noch nichts als wundern kann über dieses Land, das kulturell so wahnsinnig weit von uns entfernt ist, dass ich mich frage, wie ich dasselbe überhaupt über vergleichsweise geistesverwandte Länder wie Simbabwe oder Nigeria denken konnte.

* leicht toxisches Kraut, dass in Teilen der arabischen Welt und Ostafrikas sehr beliebt ist. Macht allerdings grüne Zähne und dauert 4 Stunden bis zum gewünschten Effekt.

Tuesday, April 24, 2007

Europa.



Erst unter der Schranke durch, ganz vorsichtig. Um das Grenzhäuschen herumlaufen, auf Zehenspitzen. Durch die Ritzen der Rollläden spähen (dunkel). Der Wald auf der anderen Seite genau wie auf der anderen Seite, auch die Luft dieselbe. Überhaupt ist niemand zu sehen. Rufen (Hallo?). Wo sind all die Grenzüberschreiter, bin ich der einzige, etwa? Keine Völkerwanderungen, Südsteiermark ist Südsteiermark, hört nicht mehr auf an einem Zaun. Ein bisschen die kleine Straße (aufgebrochen) runterlaufen, weiter rein nach Slovenija/Slowenien/Slovenia/Eslovenia/Slowenii/Slovénie. Vielleicht bis nach Ljubljana, weil das so schön nach Jubeln klingt. Es gibt etwas zu feiern. Wir sollten alle viel mehr Luftsprünge machen.

Monday, April 09, 2007

Das Leben ist kein Zuckerschlecken

Die unberechenbaren und ungezaehmten Kraefte der Natur, Menschen in Lebengefahr, gerfordert bis an die eigenen Grenzen und darueber hinaus. Das ist der Alltag den ich mir waehlte.
Ich habe vergessen, wie viele mir ihr Leben verdanken ...

Tuesday, April 03, 2007

Der glücklichste Reisende, der unglücklichste Ankommende


Obige Selbstbeschreibung stammt natürlich nicht von mir, sondern von T.Bernhard, wurde aber bereits von vielen Autoren (und hiermit auch von mir) für eigene Zwecke entliehen. Im konkreten jüngsten Fall meiner Zugreise nach Frankfurt in einem exzellent besuchten ICE verhielt es sich índes genau umgekehrt, teilte ich mein Abteil doch mit sehr vielen Lebewesen, u.a. einer sehr gesprächsbereiten Dame, die ihre vier mitreisenden Kleinsthunde in zwei roten Käfigen mit sich führte, von denen einer zu ihren Füßen, der anderen auf dem Sitz zwischen uns platziert wurde (siehe Bild). Gelegentlich ins Abteil schauende Platzsuchende, die auf den Zwischensitz spekulierten, nahmen nach kurzer Duftprobe schnell wieder von ihrem Ansinnen Abstand. Die o.g. Hunde hatten nämlich die Angewohnheit, immer dann in große Aufregung zu geraten, wenn ihre Eignerin das Abteil verließ; da ihnen allerdings die Mäulchen geknebelt waren, mussten sie diese Aufregung gewissermaßen durch die hinteren Körperöffnungen äußern, was sie in gewisser Regelmäßigkeit taten. Der dabei entstehende Klang erinnerte in etwa an das Aufpuffen von Mais bei der Popcornherstellung.* Eine genaue Aufschlüsselung der Morsezeichen ist mir leider nicht gelungen.

Selten habe ich jedenfalls eine größere Erleichterung und Freude bei der Ankunft in Frankfurt verspürt wie an diesem Samstagnachmittag. Beides hielt jedoch nur bis zum Eintreffen einer Ein-Wort-SMS („Flaschen“) um genau 17.15, in welcher der Ausgang des Eintracht-Spiels zusammengefasst wurde.

* Das erinnert mich wiederum an eine meiner Lieblingsüberschriften aus dem ansonsten sehr traurigen Feuilleton der Berliner Zeitung, Anfang März 2007: „Pupender Bär bringt die Mädels zum Kreischen“. Interessanterweise ging es hierbei jedoch nicht um Knut ™, sondern einen amerikanischen Sänger, der kürzlich in einem Berliner Konzerthaus aufgetreten war.

Friday, March 16, 2007

Antananarivo.


Kurztrip nach Madagaskar: macht eigentlich keinen Sinn, muss aber trotzdem sein, denn die Firma hat prinzipiell Recht. Also Samstag abend nach Paris, eine Nacht im Ibis Charles de Gaulles, Sonntag früh morgens runter nach Antananarivo, Mittwoch nacht wieder zurück. Natürlich alles zum alleinigen Zwecke der Bekämpfung der Armen, äh, Armut.

Antananarivo ist übrigens für madagassische Verhältnisse ein eher kurzer Name, mein Kollege wohnt zum Beispiel in der
Rue Rainandriamampandry. Vornamen, Nachnamen, Städtenamen, Straßennamen: alles zehnsilbig, unaussprechbar und unmöglich zu merken. Daher werden fast alle Namen abgekürzt, Antnanarivo heißt Tana, die Leute heißen Wou, Zou, Lou usw. - Mein Kollege vor Ort heißt weiterhin wie in Deutschland und kann seine gewohnt dynamischen und stimmgewaltigen Kinder an den Ohren in die Luft heben, ermahnt mich aber ähnliches nicht zu Hause auszuprobieren. Diese Gefahr besteht nicht.

Tana ist charmanter als jede mir bekannte Stadt auf dem afrikanischen Festland. Häuser, Autos (siehe oben) und Menschen wirken etwas gepflegter als andernorts; die Slums hat man sicherheitshalber an den Stadtrand gelegt. Auch das Essen ist hervorzuheben: Während man in Lagos ein halbes Hähnchen für 15 Dollar bestellt und ein verkohltes Knochenhäufchen bekommt, während man sich in Dar-es-Salaam mit dem ersten Salatblatt eine Amöbenruhr einfängt, isst man in Tana das zarteste und bekömmlichste Zebu-Fleisch mit den erlesensten Beilagen.

Dafür, dass man sich hier noch vor nicht allzulanger Zeit die Köpfe ordentlich eingeschlagen hat, wirkt alles sehr friedlich. Nur die Polizei wollte mich nachts zunächst unbedingt mit auf die Wache nehmen, aber man konnte sich auf einen Vergleich einigen. Das war dann auch der einzige Verhandlungserfolg der Reise.

Saturday, March 03, 2007

Sorglos.



Anna hat heute gemailt und gesagt, es gehe ihr nicht gut. Anna hat eine Erkältung, Anna liegt im Bett. Anna ist mit mir sehr früh aufgestanden, um 2 Uhr morgens letzten Dienstag. Wir haben uns in ein Taxi gesetzt und sind zum Flughafen Ben-Gurion gefahren. Das hat 120 Shekel gekostet, Anna hat bezahlt. Wir haben umgerechnet: 120 Shekel sind 22 Euro, ein Schnäppchen, weil der Preis für die einfache Bahnfahrt aus dem Stadtzentrum 8 Euro pro Person beträgt. Kurz vor der Gepäckdurchleuchtung eine Frau: "Was it your first visit to Israel? Are you a couple?" Anna hat zwei Mal verneint. "Then why are you travelling together?" Ich musste meinen Koffer öffnen und alles auspacken: Hemden, Pullover, eine Jeans, ein neues Paar Schuhe, den Kulturbeutel. Den Kulturbeutel sollte ich ausleeren. Die Frau nahm meinen Bartschneider in die Hand, schaltete ihn ein. Er brummte wie ein Dildo, und wir mussten lächeln. "Did you pack your suitcase yourself?" Ich nickte. So ging das fast zwanzig Minuten, dann schob die Polizistin meinen Koffer und die überall auf einem Tisch verteilten Klamotten beiseite, bedankte sich und ließ mich wortlos stehen. Ich packte alles wieder ein und lief zum Check-In-Schalter, an dem Anna auf mich wartete. Da war Anna noch nicht krank. Auch bei unserem Zwischenstopp in Budapest nicht. Jetzt liegt Anna im Bett und denkt nach über Israel, über den Grenzzaun, die jungen Frauen in den olivgrünen Armeejacken, den Ostteil Jerusalems, den vergangenen Sommer mit seinen vielen Demonstrationen, als zeitgleich ganze Wohnblocks in Beirut in Schutt und Asche gelegt wurden und ein Soldat einem Aktivisten die Gummipatrone aus seinem Gewehr in den Hinterkopf schoss. Es war Krieg letzten Sommer, und ich habe bis vor einer Woche am Strand von Tel Aviv gesessen und davon nichts bemerkt. Ich habe einen Hund photographiert, dessen Fell einen optimalen Kontrast zu den orangefarbenen Plastikstühlen eines Strandcafés darstellte. Ein gutes Photo. Ich habe im Februar bei 22 Grad auf das Meer geschaut und festgestellt, dass es in Israel einen Kaffee gibt, der besser schmeckt als in römischen Espressobars, ich habe Einat kennen gelernt und ihre wunderschöne Tochter Shani. Shani ist sieben Monate alt. Als Shani geboren wurde, fuhren fünf Libanesen in einem orangefarbenen Mini Couper Cabriolet durch das zerstörte Beirut. In der Spiegelung ihrer Sonnenbrillen konnte man zerstörte Häuser sehen, die Gesichter der jungen Menschen angewidert, das Bild wurde zum Pressephoto des Jahres gewählt. Mein Photo des Jahres ist ein Dalmatiner vor sehr sauberem Meer, an einem sehr sauberen Strand. Mein Photo des Jahres erinnert mich an wunderbares Essen, große Gastfreundschaft und viele Geschichten von der Queeruption (www.queeruption.org), die ebenfalls vor sieben Monaten stattgefunden hat. In Tel Aviv, während im Norden des Landes Soldaten von ihren Befehlshabern erklärt bekamen, dass die abgeschossenen Raketen präzise programmierbar seien, Abweichungen maximal einen Radius von 5 Metern Durchmesser betragen könnten. Die Soldaten haben das geglaubt, sie glauben es auch jetzt noch, auch nachdem die IEER längst das Gegenteil bewiesen und dafür die Schäden im ehemaligen Jugoslawien untersucht hat. In einem indischen Restaurant habe ich einen dieser israelischen Soldaten getroffen. Er hat mir seine Geschichte erzählt, von seiner Rolle als Reservist und von seiner Wut, die Familie und das Zuhause für einen Kriegseinsatz verlassen zu müssen. Er erklärte mir, dass man in einem Krieg nicht wissen könne, was passiere, die Aktionen seien von der Regierung beschlossen und von ihm nur ausgeführt worden. Ein netter junger Mann mit Zopf, gutmütigen Hundeaugen und den überzeugenden Argumenten seiner Vorgesetzten. Aber eigentlich geht es mir nicht um diesen jungen Mann, ich will von Anna sprechen. Sie liegt im Bett, muss sehr viel husten und versucht, sich Rechenschaft darüber abzulegen, ob sie mir das richtige, das echte Israel gezeigt hat. Anna hat heute geschrieben. Sie hat angekündigt, mir bei unserem nächsten Besuch das politische Israel zeigen zu wollen, sie habe ein schlechtes Gewissen, weil wir es so gut hatten während unserer Rundreise. Anna ist wunderbar. Anna hat mich bei der Hand genommen und mich in den Bus nach Masada gezerrt. Ich solle in Israel auf keinen Fall Bus fahren, hatte man mich vor meiner Abreise aus Frankfurt gewarnt, aber Anna ließ meine Angst nicht zu. Ungefährlich sei das mittlerweile, beschwichtigte sie, und wir fuhren durch die Wüste hinter Jerusalem, die durch die Regenfälle der vergangenen Wochen überraschend grün aussah. Zwischen den Hügeln die Hütten der Beduinen. Die Beduinen, das erzählte Anna, würden von der Regierung am Ziehen gehindert und lebten deshalb in Blechbehausungen am Straßenrand. Ich konnte Wassertanks sehen, Holzbretter, die vor der Sonne Schutz bieten, in kurzen Abständen auch immer ein paar Kamele, die sich über das frische Gras hermachten. Ich versuchte, zu photographieren, aber der Bus fuhr schnell über die kurvenreiche Straße. Ein paar Kilometer weiter erreichten wir das erste Kibbuz. Der Bus wurde durch eine Schranke gelassen, vor einem Häuschen saß der bewaffnete Pförtner. Im Inneren des umzäunten Kibbuz begrünte Vorgärten, einstöckige Häuser und ein Straßenraster, das für einen Moment den Gedanken zuließ, man führe durch ein Dorf im US-Bundesstaat Nebraska. Eine gute Stunde später endlich Masada: Hoch oben auf einem sandigen Hügel, unten die Seilbahnstation mit integrierter Cafeteria. Anna und ich kauften Tickets und folgten Hinweisschildern bis zu einem kleinen Kino. Wir erfuhren, dass man uns einen kurzen Film über die Bedeutung Masadas zeigen wolle, der die Wartezeit bis zum nächsten Gondelstart verkürze. Masada sei das Symbol des jüdischen Freiheitswillens, eröffnete uns ein Moderator, der durch den Film führte, und beschrieb den Heldenselbstmord von über 900 Juden, die sich der Übermacht aus 12.000 römischen Legionären ausgesetzt sahen. Lieber in Freiheit sterben, als den Römern als Sklave dienen, der Moderator stockte kurz, schluckte und richtete seine Frage mit Blick in die Kamera an uns Zuschauer: "Wie würden Sie sich entscheiden?" Wir fuhren mit der Seilbahn nach oben. Sie habe mir zu wenig von dem politischen Israel gezeigt, schreibt mir Anna heute, und dass ihr Hund bei ihr im Bett liege und ihr Gesellschaft leiste. Ein schöner Hund, ein Mischling aus Labrador und Dackel, den sie aus Spanien mitgebracht hat. In Tel Aviv gibt es viele Hunde. Und ein Gesetz, nach dem jeder Hundebesitzer die Scheiße seines Lieblings vom Bürgersteig greifen und in einen Mülleimer werfen muss. Abends stand ich oft auf dem Balkon von Siris großzügiger Wohnung im Süden der Stadt und habe aus dem vierten Stock dabei zusehen können, dass die Anweisung von den Bewohnern der Stadt ernst genommen wird. Manchmal stellte sich Siri zu mir auf den Balkon und berichtete von der Queeruption. Im Krieg gebe es ohnehin die besten Partys, erzählte sie, im Krieg gehe man erst gegen den Krieg demonstrieren und verabrede sich gegen Abend zu einer Feier. Das Leben sei intensiv in Tel Aviv, und in Kriegszeiten steigere sich diese Lebensfreude noch. Ich konnte das verstehen. Anna schrieb heute von ihrem schlechten Gewissen. Sie habe mir zu wenig von dem Furchtbaren gezeigt und wolle mir deshalb eine DVD-Dokumentation schicken, die 'Route 181' heißt und über die Konflikte in der Region Aufschluss gebe. Ich habe Anna geantwortet und geschrieben, dass ich mich darüber freuen würde. Am Schluss von Annas Mail ein Link. Sie habe mir von der Geschichte erzählt, schreibt sie, man könne auf dem Video sehen, wie kurz der Zug der Demonstranten gewesen sei, auch werde ich verstehen, dass es unmöglich war, den Schüssen der Soldaten auszuweichen. Die Frau mit dem pinken Haarband sei T. Von T. hatte mir Anna schon in Jerusalem erzählt, kurz nach unserem Besuch der Klagemauer. T. sei die erste bei dem Verwundeten gewesen, sie habe seinen blutenden Kopf gehalten und dafür gesorgt, dass ein Krankenwagen gerufen wurde. T. sei erst spät zur Gruppe der Demonstranten zurückgekehrt und habe mit Blick auf ihr blutverschmiertes T-Shirt nur gesagt: "It's ok, it's not mine." An diesen Ausspruch könne man sich auch heute noch erinnern, man habe ihn während des Krieges immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen zitiert. Der Link führt also zu einem Video, das man im Internet finden kann, wenn man möchte. Liebe Anna, alles war politisch an unserer Zeit in Israel. Meine 96-jährige Tante, die 1933 aus Berlin geflohen ist, meine 94-jährige Tante, die im Jahr 1936 folgte. Die Geschichten über meinen Vater politisch, selbst die wunderschöne Frau im Straßencafé, die mir so herrlich mürrisch meinen Kaffee hingestellt hat jeden morgen politisch. Jede Straßenecke erzählt ihre Geschichte, aber die beste Geschichte hat Shani als Hauptfigur, sieben Monate alt und mit Eltern, die ihre Wege durch Jerusalem über das Handy erfragen müssen, weil sie aus Tel Aviv kommen und sich in Jerusalem nicht auskennen, ihre Informationen aus Reiseführern lesen müssen. Ich habe keinen Reiseführer gebraucht, ich hatte Dich. Also Danke, vielen Dank. Und werd endlich schnell gesund. Wir müssen bald wieder los.

Saturday, February 10, 2007

Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten.




Ästhetisches Stadium: Ankunft, Kopenhagener Flughafen, 25.01. Ich habe keine Krone und vergessen, dass Dänemark noch kein Euroland ist. Vom Flugzeug aus werde ich durch mehrere Ankunftshallen geführt, in denen sich ein Geschäft an das nächste reiht. Beim Betrachten der Boss-Auslegeware nehme ich Wohlstand als etwas wahr, das für mich in immer weitere Ferne rückt. Ich setze mein Alter in Beziehung zu meinem Kontostand, ohne daraus etwas ableiten zu können. Schließlich sehe ich an der Gepäckausgabe eine Wechselstube und tausche 70 Euro für 500 Kronen. Ein gutes Geschäft verlangt nach einem Danke, aber ich kenne das dänische Wort nicht und sage deshalb: Thank You. Mein Koffer drückt sich als zweites Gepäckstück durch die breiten Gummifäden und kommt auf mich zu. Als ich danach greifen will, stoße ich einen Herren an, der beinahe vornüber kippt. Ich starre auf seinen Mantel und finde ihn schön. Weil ich nicht weiß, was das dänsiche Wort für Entschuldigung ist, sage ich: Sorry. Der Mann, etwas irritiert, sagt: Yes. Vor der Flughafenhalle stehen Menschen in einer langen Schlange und warten auf ein Taxi. Ich stelle mich dazu. Es ist sehr kalt, trotzdem rauchen viele der Wartenden. Kurz darauf rauche auch ich. Als mir ein Taxifahrer zum Einsteigen winkt, bin ich mit dem Rauchen noch nicht fertig. Ich überlege, ob ich die Zigarette einfach fallen lassen darf und sehe mich um. Auf dem Boden liegen keine Zigaretten, obwohl jeder zweite in der Warteschlange raucht. Ich fühle eine erste Verzweiflung und frage mich, ob Dänemark eines der Länder ist, das mit umgerechnet mehreren Hundert Euro die Verschmutzng von Gehsteigen verwarnt. Ich gebe dem Taxifahrer das Gepäck und schnicke die Zigarette unter seinen silber-grauen Mercedes, dann steige ich ein. Weil ich weder den Hotelnamen, noch die Straße richtig aussprechen könnte, gebe ich dem Fahrer mein aufgeschlagenes Notizbuch. Es schaut es sich sehr lange an. Natürlich frage ich mich, ob er heimlich meine Aufzeichnungen liest und strecke meine Hand aus. Ich bin angeschnallt und komme nicht weit, erhalte aber das Notizbuch zurück. Wir fahren an. Es schneit ganz kleine Kristalle, die der große Frontscheibenwischer mit einiger Brutalität nach rechts und links fegt. Ich beschließe, Kopenhagen schön zu finden, reibe die beschlagene Scheibe mit meinem Ärmel frei und schaue hinaus. Es ist bereits dunkel. Im Hotel bekomme ich den Kaffee in einer Blumenvase und sitze auf tiefen Designermöbeln. Das ist nicht sehr angenehm und damit Spiegel der Zeit. Später im bunten Zimmer schaue ich fern und merke, dass in Dänemark nichts synchronisiert wird. Im Hintergrund brummt die Belüftungsanlage des Badezimmers. Das Bett ist zu klein für zwei Personen, deshalb gehe ich nicht mehr aus. Der Grund für meine Lethargie kommt mir lächerlich vor, aber mir fällt kein besserer ein.





Ethisches Stadium: Ich denke im Schlaf zu viel nach und bin deshalb müde, als ich aufwache. Beim Frühstück gibt es den Kaffee wieder in schwarz eingefassten Blumenvasen mit Hotellogo darauf. Ich sitze viel zu tief auf zu harten Hockern und esse Weißbrot mit Käse. Ich frage mich, wem ich eine Kurznachricht schreiben könnte und lese dann Zeitung. Wahrscheinlich bin ich einsam, aber es gelingt mir immerhin, die Überschriften zu verstehen. Ich bin also stolz und einsam. Später mache ich einen Stadtrundgang und bemerke Denkmäler und Brunnen. Auf einem großen Platz das Denkmal eines Pferdes. Ich stelle mich direkt davor, sehe aber den Reiter nicht. Da ich es für eine Huldigung der vielen Pferde halte, die in kriegerischen Auseinandersetzungen ihr Leben lassen mussten, photographiere ich es.



Um kurz vor Zwölf höre ich Marschmusik. Ich drehe mich um und sehe schwarz gekleidete Männer mit großen flauschigen Hüten auf mich zulaufen. Sie tragen Instrumente und spielen darauf. Passanten folgen ihnen und machen Photos. Ich beschließe, vor der Musikantengruppe herzugehen und werde auf einen großen Platz getrieben. Genau in der Mitte bleibe ich stehen. Ich mache ebenfalls ein Photo, als die Männer vor einem Gebäude vorbeigehen. Das Gebäude gefällt mir, es ist das königliche Theater. Am Nachmittag werde ich erfahren, dass die Musikanten die königliche Leibgarde waren. Es ist also ein Photo, auf dem die Dinge stimmig sind.



Bevor ich zum Goetheinstitut laufe, sehe ich mir Kirchen an. In einer dieser Kirchen entdecke ich eine Uhr. Sie steht vor einer Säule, genau gegenüber der Kanzel. Ich schließe daraus, dass dänische Pfarrer einem genauen Zeitplan folgen und frage mich, ob das eine Möglichkeit ist. Dänemark ist ein modernes Land. Man hat vielleicht, so denke ich, die Zeit für Predigten reglementiert, um die Menschen wieder in Kirchen zu locken. Wenn der Vatikan das erführe. Kann aber auch sein, dass jedes Mittel recht ist.



Zum Schluss meines Rundgangs laufe ich den runden Turm nach oben und schaue über die Stadt. Es ist sehr windig. Der Nieselregen ärgert meine Backen. Auf der Plattform sind außer mir noch eine alte Frau und drei Kinder in gelben Regenjacken. Die Kinder sind zu klein, um über das Geländer zu sehen und rennen deshalb wild durcheinander. Als ein Kind auf sein rechtes Knie fällt und Schmerzen hat, stehle ich mich davon.


Religiöses Stadium: Am Morgen meines letzten Kopenhagentages besuche ich Christania. Sie ist noch immer autonom, obwohl über dreißig Jahre alt. Ich bin auch über dreißig und frage mich, was mit mir passiert ist. Christiania hat Platz für über 800 Menschen, ich bin schon ausgefüllt mit mir selbst. An Marktständen werden Tücher mit den Antlitzen berühmter Persönlichkeiten verkauft, vor einer alten Lagerhalle baut jemand einen Schneemann. Ich möchte photographieren, aber das ist hier verboten. Am Ende einer langen Straße liegt das sicherste Café der Welt: Der Moonfisher.



Ich gehe hinein und bestelle einen Kaffee. Er kommt im Glas. Vor den großen Fenstern sitzen Menschen ganz bei sich selbst. Auch mich überkommt eine bemerkenswerte innere Ruhe. Aus Lautsprechern, die mit Eisenketten an der Decke befestigt sind, klingt die Musik der Beatles. Schon nach einer halben Stunde des Sitzens dringe ich zu meinem Innersten vor. Ich denke nicht mehr, ich fühle. Und ich versuche, das eine gegen das andere auszuspielen, aber es gelingt mir nicht. Ich würde gern für immer hier sitzen, muss aber aufbrechen zum Treffpunkt: 13 Uhr, Forfatterskolen.



Am Abend soll ich eine Geschichte vorlesen und nehme Platz in einem Saal. An der Decke ist der Stuck rekonstruiert und grau angemalt worden. Auch das finde ich schön. Neben mir sitzt nämlich Ida Marie Bertelsen, in die ich mich immer wieder ganz kurz verliebe, ohne es ihr zu sagen. Natürlich sage ich nichts, denn nur heimliche Liebe ist wirklich bedingungslos. Wenn man alles zu Sprache machte, was gefühlt wird, gäbe es schon bald kein Gefühlt mehr. Nach der Lesung trinken wir Rotwein aus Tetrapacks. Ich halte meinen Plastikbecher unter den Plastikzapfhahn und drücke auf einen Knopf. Es dauert nicht lange und der Becher ist voll. Ich schaue mir den Aufdruck des Pappkartons an: Dry Red Wine steht dort, 2005. Mehr brauche ich nicht zu wissen. Da es sehr spät ist und mein Flug sehr früh am nächsten Morgen geht, trinke ich schnell und viel. Kausalität interessiert mich nicht mehr. Multikausalität noch weniger, denn Ida Marie Bertelsen ist schon lange weg. Bevor sie gegangen ist, hat sie gefragt, ob ich mitkommen will auf eine Party. Aber für wen hat sie mich halten können, wenn ich doch selbst nicht weiß, aus was ich gemacht bin! Eine Frau stellt sich zu mir und beklagt sich über Kopenhagener Neubauten. Das habe ich nun davon. Sie spricht Deutsch mit mir, aber das merke ich erst sehr spät. Ich täusche deshalb Hunger vor und stelle mich ans Büffet. Ricardo Montserrat trägt einen langen Schal und einen Borsalino. Er sagt, dass er gerne vorlese und dass das nächste Treffen in Saint-Malo stattfinden müsse. Ich nicke. Draußen ist der See gefroren. Aus dem Fester sehe ich die Enten, die ganz vorsichtig auf der Eisläche schlafen. So etwas können nur Enten: vorsichtig schlafen. Aus dem Tetrapack kommt immer mehr Wein. Aus dem Tetrapack kommt immer mehr Wein. Das Mosting-Haus wurde vor mehr als Hundert Jahren gebaut. Auf dem Weg zur Metro ist der Gehweg glatt. Ich sehe mich schlittern und lache. Die Metro ist erst fünf Jahre alt. Sie ist Zukunftsmusik. Sie fährt einen Zweiminutentakt. Ihre Rolltreppen sind groß. Ich rufe mich zur Ordnung meines Selbst. Ich habe ein Vorbild. Ich habe ein Bild.