Monday, September 06, 2010

Warszawa.



95% der Stadt seien zerstört gewesen, sagt die Fremdenführerin, dabei fühle ich mich schon lange nicht mehr als Fremder. Man schaue also, wenn man sich die alten Gebäude ansehe, nicht etwa auf tatsächlich alte, sondern lediglich auf rekonstruierte, behutsam rekonstruierte, fügt die leicht untersetzte Frau an. Wir spazieren durch das historische Zentrum von Warschau, dem einzigen Stadtkern der Welt, der trotz vollständiger Kriegszerstörung und späterem Wiederaufbau zum Unesco Weltkulturerbe zählt. Man habe so sorgfältig und hingebungsvoll rekonstruiert, dass der neue vom alten Stadtkern nicht zu unterscheiden sei, sagt die Fremdenführerin, und ich muss an Frankfurt denken, an die Ostseite des Römers, wie die Gebäude dort stehen als überdimensionale Puppenhäuser, leer und unbewohnt, während hier alles alt wirkt, als seien die Hausfassaden für Filmaufnahmen angegraut worden.



Wenig später stehe ich vor dem Kulturpalast, der als Wahrzeichen der Stadt gelten könnte, wäre er nicht auf Geheiß Stalins erbaut worden. Ein Geschenk an das polnische Volk, hat die Fremdenführerin erklärt, dabei habe man auf sämtliche Geschenke Stalins gerne verzichten wollen. Am Fuße des Kulturpalasts spielen junge Männer Basketball auf drei nebeneinander liegenden Plätzen. Die Abendsonne ringt ihnen lange Schatten ab, in der schwülwarmen Luft ist es mir ein Rätsel, wie man ohne Pause dem Ball hinterher sprinten kann. Ich zahle 20 Zloty und fahre nach oben zur Aussichtsplattform. Der Kulturpalast ist das höchste Gebäude der Stadt, und Warschau liegt zu meinen Füßen wie eine Modelleisenbahnlandschaft. Im Feierabendverkehr bewegen sich Autos, Straßenbahnen und Fußgänger zeitlupenartig durch die breite Straßen, auf denen man wunderbar Paraden abnehmen könnte. 1,7 Millionen Menschen leben hier, es ist Polens größte Stadt.



Vor dem Präsidentenpalast steht ein Holzkreuz und wird bewacht von Polizei und Armee. Eine Gruppe Pfadfinder hat es dort aufgestellt, im April, kurz nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk. Seitdem ist es Polens schlichtestes Streitobjekt, ein vier Meter hohes Kreuz aus Buchenholz, unscheinbar auf den ersten Blick, und doch in der Lage, das ganze Land in zwei Lager zu spalten. Als man es Anfang August in eine nahe gelegene Kirche bringen wollte, kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen katholischen Gläubigen und der Polizei. Das Kreuz blieb stehen. Es müsse, so die modernen Kreuzritter, als Andenken an die Opfer an seinem Platz belassen werden, bis man sich für den Bau eines Denkmals entschieden habe. Kurz darauf kam es zur Gegendemonstration: 6000 Warschauer schrien im Chor: „Reißt den Präsidentenpalast ab! Er versperrt uns die Sicht auf das Kreuz!“ und, weniger sarkastisch, „Ein Kreuz gehört in die Kirche!“ Eine Lösung ist bislang nicht gefunden worden, und so bieten die Betenden mit ihren Grablichtern, Rosenkränzen und Gesängen den vorbeiflanierenden Touristen ein aufregendes Schauspiel.



Am Fuß der Altstadt fließt die Weichsel entlang, unbeeindruckt und riesenhaft. Die Warschauer mögen sie nicht, nennen sie: Unseren dreckigen Fluss. Dabei arbeitet die Weichsel seit Wochen daran, dem Nil seine Spitzenposition streitig zu machen. Rubrik: Schönster Fluss der Welt. Das Ufer ist nicht erschlossen, nirgendwo ein Café, eine Bar, ein Spazierweg, nur einen halblegalen Club in einem Zeit zieht es alle paar Wochen hierher. Dann kommen auch die Warschauer, aber nur, um zu tanzen. Ihre Stadt, das wissen sie, kann es mittlerweile aufnehmen mit den größten, schönsten Städten Europas. Die Banken sind aus Breslau gekommen, die Kultur aus Krakau, nun wartet man in Warschau darauf, dass der Rest der Welt versteht.