Friday, February 15, 2008

Im Zimmer

Marfa ging im Zimmer auf und ab, die Wände flackerten in ihrem Blick: hingeworfene Striche. Vielmehr, die Striche waren noch im Begriff, sich hinzuwerfen und stürmten zugleich auf Marfa zu. Erst aus der Entfernung betrachtet, fügten sie sich zu einer bräunlichen Fläche. Das Stroh, das unmittelbar unter der oberen Farbschicht lag. Die Rillen, die jemand mit einem groben Spachtel gezogen haben musste. Ein in die Wand geritztes Kreuz. Schwarze und weiße Farbe, die stellenweise durch die Oberfläche brach und aus den Rändern lief. Tonbläschen, die, halb im Zerplatzen noch (im Anplatzen), getrocknet waren. Mit dem Ärmel blieb Marfa dann an einer Stelle hängen, wo die Farbe sich zu Klumpen verdichtet hatte (verdichtet worden war), sie musste regelrecht am Pullover zerren, um wieder freizukommen. Ein paar Fäden blieben am Relief hängen und bewegten sich Marfas Gang, ihrem Luftzug hinterher.

Friday, February 01, 2008

...ein bisschen schämen...



Der Bauernhof ist zur einen Hälfte grau, die andere trägt dunkles Rot. Die Wetterseite hat ihren Putz verloren, dort trotzen jetzt Backsteine den Jahreszeiten. Hinter jedem Fenster eine Spitzengardine. Der dampfende Schornstein verrät einen Kohleofen oder Kamin, vor der Haustür sitzt ein Kind und starrt in den Schlamm. Seit Tagen hat es geregnet, der Boden kurz vor Legnica ist aufgeweicht, von Traktorrädern umgewühlt, im Hintergrund veranstalten Hühner ein Wettrennen. Immernoch zwei Stunden bis Wroclaw, ich habe nichts mehr zu tun. Der Zug kriecht seit Cottbus, Ruß aus seiner Diesellok schlägt sich in Birkenwälder, ab und zu heftet er sich an die Fassaden längst stillgelegter Bahnhöfe. In Cottbus haben drei Männer die Lok ausgetauscht, seit Cottbus gibt es keine Oberleitungen mehr, wir fahren durch das Zwanzigste Jahrhundert. An Dörfern vorbei, die aus einer Entfernung von mehreren Hundert Metern vor allem Gemäldemotive sind, in denen sich nichts regt, deren Bewohner ich nur vermuten darf, weil immer irgendwo ein Deckenlicht brennt. Wir fahren vorbei an Lichtungen, auf denen Rehe dutzendweise die Köpfe zusammenstecken, an Autowracks auf Feldwegen, einem ausgebrannten Linienbus mitten im Wald, dazu überall hölzerne, zum Teil abgeknickte Strommasten. Wir fahren vorbei am Verfall. Das Bahnhofsgebäude in Tuplice hat seine Fenster eingetauscht gegen Pressholz, in Zary steigen die Passagiere über Gleise in Richtung Ausgang. Wir passieren Fabriken und die mächtigen Wohnhäuser ehemaliger Fabrikbetreiber, kaum irgendwo hat sich ein Dach gehalten, und wenn ich unter Tausenden Lagerhallenfenstern mal eine intakte Scheibe sehe, möchte ich einen Stein hindurch werfen, um ein Bild zu vervollständigen. Der Schaffner ist schon mehrere Male durch die vier Waggons gelaufen, jetzt steht er im Durchgang von Wagen Zwei und Drei und fragt sich, warum man auf Langstreckenfahrten nicht mehr rauchen darf. Noch in Forst habe ich ihn am Bahnsteig paffen sehen, weit weg vom mit gelbem Klebeband gekennzeichneten Raucherbereich. Ich würde ihn gerne fragen, ob er auch etwas entgegenfährt, einer Liebe, eine Sehnsucht, einem Teller Piroggen, obwohl ich die Antwort schon kenne. Jeder von uns fährt zwangsläufig etwas entgegen, auch wenn es in meinem Fall mein längst verstorbener Vater ist, dessen Schatten ich in den Straßen der Altstadt zu finden hoffe, dessen Schritte Hall ich nachhören, dessen Straßenbahn ich fahren und dessen Schulweg ich ablaufen möchte. Ein bisschen schäme ich mich dafür, schon jetzt, knapp zwei Stunden vor Wroclaw.