Monday, August 13, 2007

Flugangst und Kontrastprogramm.


Frankfurt – Paris in vier Stunden, der ICE beschleunigt kurz hinter Saarbrücken. Dreihundert Stundenkilometer kann ich irgendwann nicht mehr scharf stellen, hinter dem Zugfenster fädeln sich Blätter, Grashalme und Kieselsteine aneinander, sauber gezogen wie mit dem Lineal. Nur am Horizont erkenne ich Höfe, Baumgruppen, am Himmel versucht Air France vergeblich, uns zu überholen. Einen Meter unter meinem Sitz vibrieren die Räder über neu verlegte Schienen, ich ermutige meinen Sitznachbarn: „Wenn wir jeder einen Arm aus dem Fenster halten, du links und ich rechts, heben wir ab.“ Mein Sitznachbar ist ein achtjähriger Junge, der keine Platzreservierung hatte. Die ist auf der Strecke Frankfurt-Paris Pflicht. Er wurde vom Schaffner getadelt und zur Nachzahlung von fünfzehn Euro aufgefordert. Kurz darauf weinte der Junge still und gedemütigt, jetzt kann er wieder lächeln. Er sieht aus dem Fenster, schaut dann auf meinen Arm. Er lächelt mich aus. Kurz hinter Bondy bremst der Zug uns tief in die Sitze, ich sehe aus dem Fenster und weiß sofort: Steinhäuser mit Pariser Balkonen vor ihren lang gezogenen Fenstern sind nicht beeindruckt von der weißen Schlange, die jetzt durch den Ort zischt. Langsam rollen wir ein, Paris Ostbahnhof, 14:11. Ein amerikanischer Tourist zündet sich gleich am Bahnsteig eine Zigarette an und wird vom Schaffner zurechtgewiesen. Als Texaner verstehe ich kein Französisch, sage laut Sorry und ziehe meine Zunge beim R übertrieben weit in den Rachen. Der Schaffner winkt ab, ich folge den Hinweisschildern: Metro.

Die Linie 4 soll mich bis Montparnasse bringen, dort will ich umsteigen, kurz vor der Haltestelle Cité stoppt die Bahn plötzlich. Eine Einsatzgruppe der Polizei verbiete die Weiterfahrt, man habe die Station Cité gesperrt, informiert uns eine merkwürdig feierliche Stimme aus unsichtbaren Lautsprechern. Mein Gegenüber, ein dunkelhäutiger Mann mit weiten Hosen und IPod-Kopfhörern, die in der Innentasche seiner Jeansjacke verschwinden, schwitzt augenblicklich seine Angst zum Ausdruck. Mit der Handfläche fächelt er sich Luft zu, die schon nach einer Warteminute so dünn ist, dass ich überlege, ob ich im Notfall zwischen Waggon und Wand des U-Bahnschachts passe. Zwei Kleinkinder haben auf genau diesen Moment gewartet und weinen begeistert durch den Fahrgastinnenraum. Wir sitzen gute zwanzig Minuten. Dabei kommen wir uns näher, wenn näher kommen bedeutet, dass man sich riechen lernt. Ich rieche Christen, Buddhisten, Islamisten, ich rieche Dutzende Nationen und die jeweilige Art, mit einer Stresssituation umzugehen. Als ich mich meiner Verantwortung nicht mehr entziehen und eine Zugrevolte anführen will, fährt die U-Bahn wieder an. Sofort ist die Luft besser, ich schließe die Augen. Am Bahnhof Montparnasse weiß ich dann wieder, warum ich gegen Beton bin. Dunkelgraue Deckenplatten hängen tief über unseren Köpfen, ein paar Tauben kunstfliegen zwischen den Umsteigern hindurch. Ich überlege, wem ich mich erklären könnte und verpasse beim Suchen beinahe den Anschluss, 16:34 nach Lorient. Wagen 11, Erste Klasse, ich hechte in die Tür, die sich gleich darauf zischend schließt. Im französischen TGV bedeutet Erste Klasse ein höchstens menschenwürdiges Maß an Beinfreiheit, der Aufpreis beträgt zehn Euro. Die Sitze des TGV aus Plastik, sie lassen sich nicht zurückstellen und sind in der Zweiten Klasse so eng aneinander geschraubt, dass man sich wünscht, im Flugzeug zu sitzen. In der Ersten Klasse ist heute jeder Platz belegt, die Fahrgäste verflüstern einander die Zeit, wenn ein Handy klingelt, steht der Angerufene auf und geht aus dem Waggon. Ich lege meinen Kopf an die Scheibe und will einschlafen, sofort kommt der Schaffner. Kurz darauf erinnert mich meine Blase, warum man auf Reisen keinen Kaffee trinken sollte.

Die Toilette des TGV ist so klein, dass ich mich um die Tür herumwinden muss, aus dem Gleichgewicht gerate und mich am Waschbecken festhalte, um nicht zu stürzen. Im Spiegel kann ich mir bei diesen ungelenken Bewegungen zusehen und mich lächerlich finden. Bevor ich erledige, wozu ich gekommen bin, muss ich Notizen machen. „Ein bis zwei Quadratmeter, Dixieklogeruch, bräunlich verfärbte Brille, Kaugummis auf dem Fußboden, kein Witz: Die Erste Klasse Toilette des TGV.“ Ob man das als Tourist charmant nennen darf? Um halb Neun erreichen wir Lorient, auf den Straßen betrinken die Kelten einen historischen Feiertag, der Rock für den Mann ist hier Testosteronzeugnis. Wo ich auch hinsehe: stark behaarte Waden. Später in Larmor Plage zaubert die untergegangene Sonne ein zartes Rosa an den Abendhimmel, die Assiette de Mer ist vorzüglich. Kontrast ist etwas, das ich mir lobe.