Tuesday, April 08, 2008

Moorleiche und Dänische Tiere


© Falko Hennig


Urlaub in Dänemark, bei der Fahrt kann ich die beiden großen Vergnügungen des Schriftstellers miteinander kombinieren: Zeitunglesen und Eisenbahnreise im dieselelektrischen ICE 380, der sich wunderbarerweise in Hamburg teilt. Wieso gerade Dänemark? Die Einladung eines Kulturvereins bescherte mir die Chance, eines durch Honorar und Reisekosten günstigen Ferienaufenthaltes in dem Land, das in der DDR wegen der Herkunft der Olsenbande Kultstatus genoss.

Es begleiten mich mein lieben Töchter Ella (11) und Lisa (9). Wehmütig nehmen wir Abschied von Berlin, es ist ja nur für vier Tage und von Sonnenstrahlen durchbrochenes Schneetreiben erleichtert die Trennung.

Durchs Zugfenster sehen wir Kühe, Pferde, Rehe, Schafe, die Kinder ergänzen meine Aufzählung: „Vögel! Läuse! Autos!“ Noch verstehe ich das böse Omen nicht, das sich damit schon bedrohlich über unsere Reise legt.

In Hamburg halten wir es erst für eine schräge Aussprache, aber es ist die korrekte: „Orrhus“, nicht „Aarhus“ wird die 300000-Einwohnerstadt formuliert.

Bente Rasmussen erwartet uns mit meinem Buch als Erkennungszeichen im Bahnhof, 10 Zentimeter Schnee liegen, als sie uns hinauf in den Holmevey fährt. Eine Streifenkarte gibt uns Frau Rasmussen für den Bus: „Voksen 2 Zoner 115 Kroner Midttrafik“, hier steige man hinten ein, das begriffen selbst die Kopenhagener nicht. Inzwischen arbeiten hier viele Busfahrer aus Deutschland. Vielleicht bin ich soetwas wie ein Busfahrer aus Deutschland, bloß als Autor. Aber kein schlechtes Leben, besser wäre es wohl nur als Busfahrer aus Dänemark.

Der Holmevey, an dem sich unsere Ferienwohnung befindet, stellt sich als recht laute Verkehrsstraße heraus, Homevey könnte Heimweh bedeuten, vielleicht aber auch eher Kopfweh oder Herzschmerz. Dafür ist ein Supermarkt namens Brugsen direkt gegenüber. Dort begehe ich einen folgenschweren Fehler und kaufe etwas, das Rygeost Salat heißt und für mich wie Quark aussieht. Es enthält 62% Skummetmælksrygeost, 11% planteolie und purløg. Ich kann hier getrost verkünden, dass ich noch nie vorher so etwas gegessen habe und sehr hoffe, in meinem ganzen Leben nicht noch einmal so etwas probieren zu müssen. Man stelle sich die Strümpfe eines unter Fußpilz leidenden Fußballspielers vor, der trotz täglichem Training seine Fußbekleidung seit einem halben Jahr nicht mehr gewaschen hat, sie sodann zwei Hunden eines Kaufhallenpunks als Halstücher umbindet. Nach einem weiteren halben Jahr wird aus diesen Strümpfen ein Sud gekocht, so schmeckte der Rygeost Salat.

Die Museen von Århus haben fast alle geschlossen, manche wegen Bauarbeiten, andere wegen privater Feiern. Immerhin kommen wir ins Moesgård Museum, die dortige 2000 Jahre alte Moorleiche sieht aus wie verflüssigt, die Knochen haben sich in Leder verwandelt. Es ist der in den 50er Jahren entdeckte Grauballemann, wobei lange trotz seines starken Bartwuches umstritten war, ob es sich nicht doch um eine Frau handelt. Diese Diskussion wird den vielen hübschen Däninnen nicht gerecht, die keinesfalls alle über stark ausgeprägte Gesichtsbehaarung verfügen. Durch Tomographie wurde inzwischen auch das Genital des Grauballemannes lokalisiert, und so kann man mit einiger Sicherheit von einem frühen Dänen ausgehen, dem erst das Bein gebrochen und dann die Kehle von Ohr zu Ohr durchgeschnitten wurde. Was er wohl angestellt hat? Keine angenehme Zeit, natürliche Todesursachen gab es, den Funden nach zu urteilen, so gut wie gar nicht, sondern nur Mord und Totschlag.

Angeschlossen in der Nebenscheune ist eine umfangreiche völkerkundliche Sammlung. Ob sie ihre Wikinger-Vergangenheit als „primitiv“ ansehen, oder ob es Zufall ist, dass die Kollektion hauptsächlich aus der sogenannten Dritten Welt stammt?

Ein grüner Raum ist Bolivien und eine Vitrine darin Evo Morales gewidmet samt Masken und Kult-Pullover. Eine Wand mit Objekten in rot, ein Hubschrauber aus Bast, mir gefällt die Anhäufung wunderbar.

Leider hat das Steno Museum wegen einer Privatveranstaltung geschlossen, wir können immerhin eine wunderbare Uhr mit Drehpendel im Foyer bewundern und ein Foucaultsches Pendel. Die Dame verweist uns weiter ins Naturhistorisk Museum, dort geht es um DANSKE DYR: Dänische Tiere.

Eine Weltkarte zeigt, welche Tiere für welche Länder stehen, während auf den britischen Inseln der Grævling, also der Dachs beheimatet ist, in Deutschland und Polen der Hirsch verortet wird und in Nordskandinavien Elch und Biber kreuchen, hat Dänemark nur den Muldvarp, den Maulwurf zu bieten. Aber zum Glück ist es nicht ganz so bescheiden, bemerken wir, als wir einen nicht enden wollenden Gang betreten. Hinter uns schließt der Museumswächter die Tür, er dreht den Schlüssel dreimal herum. Jetzt können wir nicht mehr zurück, und sehen die Bescherung, vor uns liegt ein fünf Kilometer langer Gang, rechts und links hinter Glas ausgestopfte Fische, Ratten, Mäuse, Feldratten, Fische, Wasserspitzmäuse und natürlich Maulwürfe.

Ich will hier raus!“, sagt Lisa, Ella hat Tränen in den Augen.

Die Tür hinter uns ist zugesperrt, wir müssen weiter, wenn wir hier nicht zwischen ausgestopften Mäusen, Fischen und Ratten sterben wollen, müssen wir vorwärts.

Kommt, Kinder, das schaffen wir!“ Aber auch mir ist bange und ein ungutes Gefühl schnürt mir die Kehle zu. Die Kinder schluchzen, während wir die Wanderung im Reich der toten Nagetiere beginnen. Einzige Abwechslung ist der Geruch, während die Nager muffig riechen, haben die Fische einen leichten Fischgeruch behalten.

Vielleicht ist Dänemark das traurigste Land der Welt, mir waren die ständig mit Tränen gefüllten wasserblauen Augen unerklärlich, jetzt beginne ich sie langsam zu verstehen. Fische, Ratten, Mäuse, Feldratten, Fische, Wasserspitzmäuse und natürlich Maulwürfe. Auch wir haben jetzt die dänischen Augen.

Ein ganzes Land hat nur Schädlinge, und das seit Jahrhunderten. Vermutlich aus ganz Europa angelockt durch das unvermeidliche Knäcke, vielleicht aus anderen Gründen hier. Fische, Ratten, Mäuse, Feldratten, Fische, Wasserspitzmäuse und natürlich Maulwürfe.

Kein Wunder, dass die größte Kulturleistung in Moorleichen besteht, wobei der Anteil der Dänen an diesen Mumien in der Ermordung der späteren Museumsattraktionen besteht, die Mumifizierung selbst wird vom Moor besorgt. Vielleicht die einzige Möglichkeit um zu verhindern, dass die Toten ein Fest für die Ratten werden?

Die Kinder sind tapfer, ich versuche es auch zu sein, während wir wandern zwischen toten Fische, toten Ratten, toten Mäusen, toten Feldratten, toten Fischen, toten Wasserspitzmäusen und natürlich toten Muldvarps: Maulwürfen.

In den 80er Jahren ging durch die DDR-Presse, dass in Dänemark ein bestimmter Politiker das Militärbudget komplett sparen wollte zugunsten eines Anrufbeantworters im Verteidigungsministerium, den Angriffslustige anrufen könnten und dessen Auskunft lauten sollte, dass Dänemark sich ergeben würde. Aber ein Blick in die dänische Tierwelt hätte auf Angreifer eine noch abschreckendere Wirkung gehabt.

Fische, Ratten, Mäuse, Feldratten, Fische, Wasserspitzmäuse und natürlich Maulwürfe. Manchmal denke ich, dass lebende Schädlinge noch einen höheren Unterhaltungswert hätten, manchmal denke ich, dass wir es nie aus diesen Gängen wieder an die frische Luft schaffen werden. Aber noch wandern wir, noch haben wir nicht aufgegeben, noch hat Dänemark nicht gewonnen.

Und zum Glück habe ich Verpflegung mit: Rygeost Salat. Wir werden es überleben.

ICE 381 Århus – Berlin, 29. III. 08