Sunday, May 18, 2008

Café Prückel. Wien.



Im Café Prückel gibt es Pressschinken zum ofenfrischen Brötchen, das beim Aufschneiden noch warm ist und mehr rohen Teig als Krümel am Messer hinterlässt. Im Café Prückel ist das Ei wachsweich, die Marillenmarmelade ein Gedicht und die Butter kühl und doch streichzart. Im Café Prückel sind ‚Wiener Melange’ und ‚Verlängerter mit Milch’ so ähnlich, dass ein Schelm auf den Gedanken kommen könnte, sie seien identisch. Im Café Prückel reicht es nicht, dem Kellner dezente Handzeichen zu geben, man muss winken, als versuche man sich innerhalb einer großen Menschenmenge bemerkbar zu machen. Doch wenn man erst einmal bestellt hat, steht die die dampfende Tasse Einerlei so schnell auf dem Tisch, dass man sich fragen könnte, ob hier im Voraus produziert wird. Im Café Prückel habe ich einmal mehr mit dem Kopf genickt, als man mich fragte: „Darf es zum Frühstück auch ein frisch gepresster Orangensaft sein, mein Herr?“ Ein vorzüglicher Orangensaft. Im Café Prückel sind die Decken vier Meter hoch, das Mobiliar ist aus den späten 50ern, frühen 60ern (Man rühmt sich auf Plakaten einer 100-jährigen Geschichte), die Bezüge sind so abgesessen, dass die ehemals unebene Oberfläche des Stoffes an manchen Stellen einem Wachstuch gleicht. Und doch wünsche ich mir nichts weniger, als eine neue Einrichtung. Im Café Prückel sind ganze Raumteile mit dicken Kordeln abgesperrt, auf angehängten Schildern wird gewarnt: Hier ist reserviert! Die Gäste sitzen daher Tisch an Tisch in der Cafémitte und hören einander bei ihren Gesprächen zu. Im Café Prückel gibt es einen Nichtraucherbereich hinter Glasflügeltüren, in dem ein einziges Pärchen sitzt. Ich freunde mich mit der Vorstellung an, sie könnten aus Deutschland kommen. Sofort höre ich G. aus 700 Kilometern Entfernung lachen: "Ihr alten Nazis könnts doch gar nicht ohne Verbote." Als ich ihm daraufhin eine SMS schreibe, antwortet er Minuten später: „Hach Ben, ich würd auch gern mal wieder Prückeln.“



Im Café Prückel kam gerade ein Backpacker durch die Tür, ihm folgten zwei junge Mädchen, vielleicht 5 und 6 Jahre alt. Der Mann sah sich unsicher um, während die Mädchen sofort einen Tisch besetzten. Eines der Mädchen hatte einen Stoffdinosaurier dabei, ein riesiges Plüschtier, und als der Backpacker sich zu nichts entschließen konnte und nur fragend im Raum stand, rief das Mädchen: "I bet you can`t catch my dinosaur!" Im selben Moment flog der Stoffdino durch das Café und landete auf dem Tisch eines dicken, bärtigen Mannes, der sich Minuten zuvor eine Zigarre angesteckt und damit für eine wunderschöne Brechung des Sonnenlichts gesorgt hatte. Eine Tasse zerschellte am Boden, Besteck rutschte vom Teller, doch der Zigarrenraucher stand nur seelenruhig auf, hob den leicht kaffeegetränkten Dino vom Boden, brachte ihn dem Mädchen zurück und sagte, obwohl das Mädchen offensichtlich kein Deutsch sprach: "Naa, des geht aber so nicht." Ich sitze mit Blick auf den Stubenring, auf meinem Tisch stehen drei Silbertabletts. Eins mit der Wiener Melange (ausgetrunken), eins mit dem Verlängerten (ausgetrunken), eins mit der heißen Schokolade, die so dickflüssig ist, dass ich den Gürtel meiner Hose nach dem ersten Schluck um einen Knopf erweitert habe. Nur prophylaktisch. Ich stelle mir A. an einem der Tische vor, ganz in schwarz, ein Buch in der Hand, die schönen, dunklen Haare hochgesteckt zu einem kleinen Kunstwerk. Wie sie doch diesem Café fehlt, wie das Prückel ohne A. gar nicht zu dem werden kann, das sie mir empfohlen hat. Die Mischung aus Jugendstilbau und 50er-Jahre Möbeln wirkt unfertig ohne A., ein Café ist immer nur so gut wie seine Gäste. Auf dem Boden neben meinem Koffer kniet eine Reinigungskraft im weißen Kittel und wischt die Blätter einer Grünpflanze vom Staub frei. Beim Vorbeigehen fordert einer der Kellner: „Hier müssens bittschön a bisserl Platz lassen.“ Rechts neben mir der Zeitungsstand mit, so steht es in der Karte, ‚der wichtigsten Auswahl internationaler Zeitungen.’ Nach zwei Stunden schließlich runde ich 22,50 auf 25 Euro und denke: Auch hier könnte ich leben. Hier, wo Zeitgeistströmungen nicht gleich das Gesicht des Alltags verändern, wo man gegen den Strom schwimmt und für Annehmlichkeiten kämpft, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wien als der vielleicht einzige Ort, wo ich mich meiner antiquierten Höflichkeit nicht schämen muss, wo Umgangsformen zur Anwendung kommen, die für Vater und Großvater eine Selbstverständlichkeit waren. Ich trete aus dem Café ins Freie, sieben- und achtgeschossige Altbauten überstrahlen selbstbewusst den Verkehr, auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlägt mir das MAK vor: Bleib doch noch ein bisschen, hier gibt es so viel zu sehen. Ich lächle zurück und verspreche: Ich komm bald wieder.

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