Monday, March 24, 2008

Auf der Suche, Wroclaw, Januar 2008.



Die Altstadt im pastellfarbenen Schmuck, ein Mädchen mit riesiger Sonnenbrille läuft auf hochhackigen Schuhen direkt auf das Rathaus zu, als sei der Markt ihr Laufsteg. Zwischen den Torbögen einer Einfahrt striegelt ein Kutscher sein Pferd vom Staub frei, im Hintergrund gräbt ein Restverwerter Mülltonnen um. Die Elisabethkirche schaut mir von hinten über die Schulter, während ich versuche, dem Gegenlicht eine Aufnahme abzutrotzen. Es ist kalt an diesem Januarmorgen, ich trage Unterhemd, Poloshirt und Fleecepulli unter dem Dufflecoat. In meiner Umhängetasche ruht ein Schwarz-Weiß-Photo, das drei junge Männer in langen, dunklen Mänteln zeigt, die eine weißhaarige Frau beschützend in ihre Mitte genommen haben. Die Frau hat sich bei einem der Männer eingehakt und sieht verlegen zu Boden. Noch im Hotel habe ich das Photo studiert, es direkt unter die Nachttischlampe gehalten und versucht, mir Einzelheiten zu merken, zum Beispiel die mit Eisen beschlagene Holztür im Hintergrund, die zwei Stufen, die zu ihr nach oben führen, das Kopfsteinpflaster davor, auf denen sechs Budapester und ein Paar Damenschuhe Halt gefunden haben. Ich habe das Photo dicht an meine Augen herangeführt, es gleich darauf aus einiger Entfernung betrachtet, ich habe es mir eingeprägt, und wenn ich jetzt mit Blick auf das Rathaus die Augen schließe, sehe ich es vor mir, als habe es sich in die Netzhaut eingebrannt. Auf der Rückseite des Photos hat jemand in unregelmäßiger Handschrift erklärt: Vor der Elisabethkirche, Breslau, ca. 1936.



Gut siebzig Jahre später drehe ich mich mit Blick auf das Rathaus nicht um, weil mich die Elisabethkirche enttäuscht hat. Keine ihrer alten, schweren Türen ist mit Eisen beschlagen, auch ist sie nicht von jenem Kopfsteinpflaster umgeben, das auf dem Photo ganz leicht glänzt, als habe es kurz zuvor einen Schauer gegeben. Drei Mal bin ich um die Elisabethkirche herumgelaufen, habe vergeblich nach den zwei Stufen gesucht, die zur Tür hochführen, habe trotzdem photographiert, weil ich der krakeligen Schrift auf der Rückseite des Photos mehr traue als meinen Augen. Den Toten etwas von den Schultern nehmen: Ob das geht? Ich bin in der ehemaligen Paradiesstraße gewesen, in der ehemaligen Menzelstraße, auf dem ehemaligen Blücherplatz und in der Einfahrt der ehemaligen Martinistraße 9. Ich habe nach Schulgebäuden gesucht, nach Ämtern, Wohnhäusern und Instituten. Ich habe nichts mehr gefunden. Eine eisenbeschlagene Kirchentür war meine letzte Hoffnung, eine Tür, die der Elisabethkirche gut stehen würde, die aber nicht einmal in eine der vielen steinernen Eingänge passt. Jetzt schaue ich auf die goldene Sonnenuhr an der Rathauswand, die seit fast fünfhundert Jahren ihren Dienst tut, und weiß: es gibt allein im Altstadtbereich von Breslau über zwanzig Kirchen, jede mit mindestens zwei Eingängen. St. Maria Magdalena, Bernhardiner- und Christophorikirche, Jesuiten- und Adalbertkirche, ich werde mich beeilen müssen. Ich habe nur noch zwei Tage Zeit.