Thursday, June 12, 2008
baires che Randnotiz
baires che Randnotiz
Auf dem Weg zu Dir. Bleibt unklar. Wer Du bist. Du. Die Stadt. Oder die Stadt Du. Ist beides. Ist Eins. Ist Du und Du und da will ich hin. Deshalb. Ich bin. Hier. In Buenos Aires. Bei Dir.
baires che Randnotiz
Sunday, June 08, 2008
Wien (Weltrauchen, Teil 2)
Kiosk gibt es nicht. In Wien kauft man Zigaretten in einer Trafik, wobei man, bitte, die letzte Silbe betont.
Trafik gibt es nicht. Zumindest die eine, meine, unsere Tabaktrafik in Glanzing. Jedes Mal, wenn ich nach Wien komme, frage ich meine Mutter: "Gibt es schon einen neuen Inhaber?"
Gibt es nicht.

"Bitte zwei Packerl Marlboro", sagte ich als kleiner Junge.
"Grüße an den Vater", sagte Herr N. freundlich.
Das Wechselgeld durfte ich immer behalten. Der alte Herr N., der seufzend seine Beinprothese hin- und herzog, war für mich der Inbegriff eines österreichischen Trafikanten. Seit jeher, schon bald nach Erlass des Tabakmonopols durch Josef II., wurden Kriegsversehrte und schuldlos verarmte Beamte bei der Vergabe von Tabakverkaufsbewilligungen bevorzugt. Eines Tages war Herr N. nicht mehr da.
"Bitte ein Packerl Marlboro Lights", sagte ich als Zivildiener.
(Zivildienstleistender gibt es nicht.)
"Grüße an die Mutter", sagte Herr H. freundlich.
Das Wechselgeld durfte ich immer behalten, meine Zigaretten bezahlte ich aus eigener Tasche. Herr H. war ein regelrechter Charmeur, der seine weibliche Kundschaft mit Komplimenten überhäufte und den kleinbürgerlichen Alltag der Glanzinger Damen ein wenig aufzuhellen schien. Er war eine Generation jünger als sein Vorgänger und aus diesem Grund vom Krieg verschont geblieben. Eines Tages war Herr H. auch nicht mehr da.
"Bitte ein Packerl rote Gauloises", würde ich heute gerne zu Herrn N., Herrn H., oder zu wem auch immer sagen, nur steht die Glanzinger Trafik leer. Sogar der altbewährte Zigarettenautomat wurde entfernt, der Abdruck an der Außenfassade stimmt wehmütig. Das Ende einer Ära.
In Deutschland wundere ich mich immer, dass in jeder Kneipe ein Zigarettenautomat herumsteht und dass Tabakwaren regulär an Tankstellen oder im Supermarkt erhältlich sind. In Österreich dürfen Zigaretten zum regulären Preis ausschließlich in Tabaktrafiken ausgegeben werden, auch einen Automaten findet man, wenn man einen findet, nur in der Nähe einer Trafik. Kauft man Zigaretten an der Tankstelle oder im Restaurant, wird ein saftiger Aufschlag fällig. Eine Trafik ist also notwendig, um den menschlichen Grundbedarf an Zigaretten zu decken. Darüber hinaus erhält man in einer Tabaktrafik auch Zeitungen, Zeitschriften, Schreibwaren, Fahrscheine, Parkscheine, Lottoscheine, Briefmarken, Brieflose und Rubbellose. Ohne Trafik hat man demnach ein empfindliches Infrastrukturproblem.

Ein Profiteur findet sich immer: In Glanzing ist es die sogenannte "Kondi", eine heruntergekommene Konditorei, die sich in unmittelbarer Nähe zur ehemaligen Trafik befindet und seit Jahrzehnten verrauchten, vertrockneten Kuchen sowie schlechten Kaffee verkauft. Da es in Glanzing weit und breit keine andere Tabaktrafik gibt, wurde dieser Konditorei vor kurzem das Recht eingeräumt, Zigaretten zu Trafikpreisen zu verkaufen, anstatt von Amts wegen darauf zu drängen, die eine, meine, unsere Trafik neu zu verpachten! Ich fahre lieber drei Stationen Bus oder fünf Minuten Fahrrad oder eine Minute Auto, als einen Fuß in diese verrauchte "Kondi" zu setzen, um dort Zigaretten zu kaufen.
Kairo (Off Topic)
ich erschlug
eine küchenschabe
mit dem koran
u. kam
mir so poetisch vor
den insektenrest
wischte ich
mit klopapier
vom grünen buch
Kairo (Weltrauchen, Teil 1)
mit dem jungen
auf der brücke
nach mohandiseen
rauche ich
cleopatra lights
ein zug
gehört dem nil
das war der deal
Wenn einer keine Reisen tut, hat er nichts zu erzählen. Also müssen eine vor Jahren getätigte Reise und ein während dieser vor Jahren getätigten Reise geschriebenes Gedicht herhalten, um den Grundstein für eine großzügig angelegte Serie zu legen, die in unregelmäßigen Abständen auf Weltwohnen erscheinen wird: Weltrauchen (oder: La Fumée mondiale) huldigt, wie der Name schon sagt, dem Kulturgut Tabak und dessen unterschiedlichen Ausformungen an verschiedenen Orten der Welt. Diese Huldigung ist zugleich ein Abgesang, die wehleidige Klage eines Weltrauchers über die fortschreitende Entzauberung und den unabwendbaren Untergang des geliebten Suchtmittels im 21. Jahrhundert.
Eine Anmerkung zur fünften Zeile des Gedichts: Diese Zigarettenmarke gibt es wirklich, ehrlich.
Wednesday, May 28, 2008
Auf Dächern

Ich sitze in einem Sessel auf dem Dach, Blick auf Tel Aviv. Gerade, als ich mich dazu entschlossen habe zu schreiben „Neben mir steht ein leerer Stuhl“, kommt ein Mädchen, das den Stuhl wegnimmt. Ist der noch frei?
Ich habe Blick auf Tel Aviv bei Nacht.
Es gibt Postkarten: Tel Aviv at Night.
Notiz: Tel Aviv ist eine Welle, die Lichter der Hochhäuser sind Surfer.
In Klammern: Tel Aviv bei Nacht, Blick von Dachterrasse, Old Jaffa Hostel.
Was mir vor ein paar Minuten hier auf dem Dach erzählt wurde:
Es gäbe auf dem Weg von Jaffa in die Stadt einen kleinen Kameraladen. Die Besitzerin sei eine sehr alte Frau, eine Fotografin. Der ganze Laden hinge voll mit ihren Fotos von Old Jaffa.
Und es habe heute einen Wüstensturm gegeben, der auch für die plötzliche Abkühlung verantwortlich sei. Deshalb auch die Eintrübung des Himmels. Ich überlege, welche Wüste es sein könnte, aus welcher Himmelsrichtung der Wind kommt. Ich koste an meinem Unterarm, kein Sand.
Ich bin neidisch, nein eifersüchtig auf das Wissen, die Orte, die Begebenheiten, die mir bloß erzählt wurden.
Dafür sehe ich die Dächer. Ich erzähle die Dächer:
Auf den Dächern gibt es weitere Landschaften, kleine Behausungen, viel schöner als die Höhlen, die man sich als Kind so gern aus Bettlaken gebaut hat; die Wucherungen, die Türme aus angehäuften Habseligkeiten und die Gänge, die sich zwischen ihnen bilden, sind nicht zu vergleichen mit einfachen Dachböden, das hier sind die Dächer selbst. Auf den Dächern sitzt man auf Sofas, flippt Sandalen gegen den Wind, randaliert in seinen Gedanken oder ist ganz eins mit sich. Als Tourist spielt man auf diesen Dächern Maultrommel oder Gitarre. Wir kochen hier auf den Dächern. Wir suchen Kaffee auf den Dächern. Wir tragen Bierflaschen hier hoch auf die Dächer. Hier oben auf den Dächern werden die Vögel gefüttert, die Vögel in den Käfigen. Hier oben bei den Vögeln können wir schlafen, wenn wir wollen. Hier oben bei den Vögeln singen wir. Hier oben erzählen wir uns Witze aus Sachsen. Vom Dach sehen wir runter auf andere Dächer. Oh, all diese kleinen Wohnungen, die Zimmer, in die man nicht hineinsehen kann, weil sich ihre Kopfklappen nicht öffnen lassen. Auf ihren Köpfen thronen ungeheuerliche Massen alter Tische, Stühle, Herde, Schränke, loser Schubladen, Karren, Gestänge, unvergleichliche Stoffbespannungen – niemals wird das jemand wegräumen. Es gibt so bunte und es gibt so graue Dächer. Sie verändern sich, die so verschiedenen Dinge werden mit der Zeit einander immer ähnlicher, ihre Buntheit bleicht mit den Jahren aus, ihre Form verwandelt sich; was unterscheidet einen Tisch noch von einem Stuhl noch von einem Kühlschrank.
Monday, May 26, 2008
Über die Hingabe II
Nachts wieder das Geschwirr der Muezzin-Rufe, das sich ausdehnt zu einem einzigen Ton über der Stadt. Danach nur noch Tierlaute. Hunde, Enten, Tauben, das Auf und Ab der Hähne und das Quietschen der Esel. Als schöpfe jemand Wasser mit der Pumpe.
Am Mittelmeer saßen zwei Männer auf Campingstühlen. Sie trugen Badekleidung und hatten Handtücher bei sich. Aber sie gingen nicht gleich schwimmen. Sie betrachteten erst das Wasser, als müssten sie sich lange darauf einstimmen.
Salwa spricht, und was sie sagt, steht immer schon vorher da. Salwa spricht. Marwa übersetzt. Und ich antworte hinein in Marwas Geschichte über Salwa.
Saturday, May 24, 2008
Berlin-Tel Aviv
Unser Eintritt ins Land beginnt mit Fragen am Berliner Flughafen. Die Fragen sind auch im Englischen leicht verständlich, die Befrager meist nett und höflich, die Befragten erleben ein Abenteuer. Das Abenteuer der Grenze. Das Abenteuer des Rests eines Kriegs. Dieser Krieg wird am Glimmen gehalten, jemand bewacht das Feuer.
Tragen Sie eine Waffe bei sich? (Nein)
Wer hat Ihren Koffer gepackt? (Ich)
Haben Sie arabische Freunde? (Zögern, man überlegt: Nein)
Ach, und diese noch, meine liebste: Haben Sie Ihren Koffer, nachdem Sie ihn gepackt hatten, noch einmal unbeaufsichtigt gelassen? (Nein, ich blieb die ganze Zeit bei ihm)
Auf dem Flughafen duftet es ungeheuerlich. No cigarettes, no weapons allowed.
Spät am Abend stehen wir schon mit nackten Füßen im weißen Sand, auf dem Mond. Einige springen umher, andere stehn herum am Nachtstrand, gerührt von diesem plötzlichen Sommerabend. Fotos von dunklem Strand und dunklem Wasser.
Kleine Kopfberge auf den Fotos: Das sind wir am Strand von Tel Aviv.
Eigenartig: Wir wurden von Dvir an den Strand gebracht, weil man doch als erstes an den Strand will, stehen nun hier in schnell ausgepackten, zerknitterten Sommerröcken mit den Waden im Wasser, waten herum. Die Wintermäntel liegen zusammengeknüllt auf dem Bett oder sind im Koffer unter die Stiefel gequetscht, an denen noch Berliner Dreck klebt; der Schnee daran ist längst geschmolzen.
Friday, May 23, 2008
Über die Hingabe I
Salwa spricht, und was sie sagt, ist leicht zu sehen. Es steht immer schon vorher in ihrem Gesicht. Es steht alles da: Shahd, Mohammed, Omar. Der Vogel, die Stadt, der Nil. Salwa sieht anders aus als ihre Schwestern. Das steht auch da.
Die Hunde liegen ausgebreitet im Hof. Lassen Esel passieren, Kühe, Fahrräder und Autos, die aus allen Zeiten, aus allen Orten kommen.
Abends stehen Menschen auf den Dächern, schwenken Fahnen. Über jeder Fahne kreist bald ein Taubenschwarm und löst sich langsam wieder auf. Die Tauben kehren ein in kleine Häuser. Manchmal fallen die Muezzins diese Zeit, rufen in dem Moment aus den Moscheen, in dem die Tauben sich sammeln und wieder zerstreuen. Dann liegen Kreise über K.
Mahmoud hat gesagt, die Deutschen könnten brillant erzählen. Ihre Worte gingen so leicht durch den Tag. Er verstehe nichts. Aber er fühle den Witz.
Ich sage zu Salwa: I can feel your joke.
Sunday, May 18, 2008
Café Prückel. Wien.
Im Café Prückel gibt es Pressschinken zum ofenfrischen Brötchen, das beim Aufschneiden noch warm ist und mehr rohen Teig als Krümel am Messer hinterlässt. Im Café Prückel ist das Ei wachsweich, die Marillenmarmelade ein Gedicht und die Butter kühl und doch streichzart. Im Café Prückel sind ‚Wiener Melange’ und ‚Verlängerter mit Milch’ so ähnlich, dass ein Schelm auf den Gedanken kommen könnte, sie seien identisch. Im Café Prückel reicht es nicht, dem Kellner dezente Handzeichen zu geben, man muss winken, als versuche man sich innerhalb einer großen Menschenmenge bemerkbar zu machen. Doch wenn man erst einmal bestellt hat, steht die die dampfende Tasse Einerlei so schnell auf dem Tisch, dass man sich fragen könnte, ob hier im Voraus produziert wird. Im Café Prückel habe ich einmal mehr mit dem Kopf genickt, als man mich fragte: „Darf es zum Frühstück auch ein frisch gepresster Orangensaft sein, mein Herr?“ Ein vorzüglicher Orangensaft. Im Café Prückel sind die Decken vier Meter hoch, das Mobiliar ist aus den späten 50ern, frühen 60ern (Man rühmt sich auf Plakaten einer 100-jährigen Geschichte), die Bezüge sind so abgesessen, dass die ehemals unebene Oberfläche des Stoffes an manchen Stellen einem Wachstuch gleicht. Und doch wünsche ich mir nichts weniger, als eine neue Einrichtung. Im Café Prückel sind ganze Raumteile mit dicken Kordeln abgesperrt, auf angehängten Schildern wird gewarnt: Hier ist reserviert! Die Gäste sitzen daher Tisch an Tisch in der Cafémitte und hören einander bei ihren Gesprächen zu. Im Café Prückel gibt es einen Nichtraucherbereich hinter Glasflügeltüren, in dem ein einziges Pärchen sitzt. Ich freunde mich mit der Vorstellung an, sie könnten aus Deutschland kommen. Sofort höre ich G. aus 700 Kilometern Entfernung lachen: "Ihr alten Nazis könnts doch gar nicht ohne Verbote." Als ich ihm daraufhin eine SMS schreibe, antwortet er Minuten später: „Hach Ben, ich würd auch gern mal wieder Prückeln.“
Im Café Prückel kam gerade ein Backpacker durch die Tür, ihm folgten zwei junge Mädchen, vielleicht 5 und 6 Jahre alt. Der Mann sah sich unsicher um, während die Mädchen sofort einen Tisch besetzten. Eines der Mädchen hatte einen Stoffdinosaurier dabei, ein riesiges Plüschtier, und als der Backpacker sich zu nichts entschließen konnte und nur fragend im Raum stand, rief das Mädchen: "I bet you can`t catch my dinosaur!" Im selben Moment flog der Stoffdino durch das Café und landete auf dem Tisch eines dicken, bärtigen Mannes, der sich Minuten zuvor eine Zigarre angesteckt und damit für eine wunderschöne Brechung des Sonnenlichts gesorgt hatte. Eine Tasse zerschellte am Boden, Besteck rutschte vom Teller, doch der Zigarrenraucher stand nur seelenruhig auf, hob den leicht kaffeegetränkten Dino vom Boden, brachte ihn dem Mädchen zurück und sagte, obwohl das Mädchen offensichtlich kein Deutsch sprach: "Naa, des geht aber so nicht." Ich sitze mit Blick auf den Stubenring, auf meinem Tisch stehen drei Silbertabletts. Eins mit der Wiener Melange (ausgetrunken), eins mit dem Verlängerten (ausgetrunken), eins mit der heißen Schokolade, die so dickflüssig ist, dass ich den Gürtel meiner Hose nach dem ersten Schluck um einen Knopf erweitert habe. Nur prophylaktisch. Ich stelle mir A. an einem der Tische vor, ganz in schwarz, ein Buch in der Hand, die schönen, dunklen Haare hochgesteckt zu einem kleinen Kunstwerk. Wie sie doch diesem Café fehlt, wie das Prückel ohne A. gar nicht zu dem werden kann, das sie mir empfohlen hat. Die Mischung aus Jugendstilbau und 50er-Jahre Möbeln wirkt unfertig ohne A., ein Café ist immer nur so gut wie seine Gäste. Auf dem Boden neben meinem Koffer kniet eine Reinigungskraft im weißen Kittel und wischt die Blätter einer Grünpflanze vom Staub frei. Beim Vorbeigehen fordert einer der Kellner: „Hier müssens bittschön a bisserl Platz lassen.“ Rechts neben mir der Zeitungsstand mit, so steht es in der Karte, ‚der wichtigsten Auswahl internationaler Zeitungen.’ Nach zwei Stunden schließlich runde ich 22,50 auf 25 Euro und denke: Auch hier könnte ich leben. Hier, wo Zeitgeistströmungen nicht gleich das Gesicht des Alltags verändern, wo man gegen den Strom schwimmt und für Annehmlichkeiten kämpft, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wien als der vielleicht einzige Ort, wo ich mich meiner antiquierten Höflichkeit nicht schämen muss, wo Umgangsformen zur Anwendung kommen, die für Vater und Großvater eine Selbstverständlichkeit waren. Ich trete aus dem Café ins Freie, sieben- und achtgeschossige Altbauten überstrahlen selbstbewusst den Verkehr, auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlägt mir das MAK vor: Bleib doch noch ein bisschen, hier gibt es so viel zu sehen. Ich lächle zurück und verspreche: Ich komm bald wieder.
Tuesday, April 08, 2008
Moorleiche und Dänische Tiere
Urlaub in Dänemark, bei der Fahrt kann ich die beiden großen Vergnügungen des Schriftstellers miteinander kombinieren: Zeitunglesen und Eisenbahnreise im dieselelektrischen ICE 380, der sich wunderbarerweise in Hamburg teilt. Wieso gerade Dänemark? Die Einladung eines Kulturvereins bescherte mir die Chance, eines durch Honorar und Reisekosten günstigen Ferienaufenthaltes in dem Land, das in der DDR wegen der Herkunft der Olsenbande Kultstatus genoss.
Es begleiten mich mein lieben Töchter Ella (11) und Lisa (9). Wehmütig nehmen wir Abschied von Berlin, es ist ja nur für vier Tage und von Sonnenstrahlen durchbrochenes Schneetreiben erleichtert die Trennung.
Durchs Zugfenster sehen wir Kühe, Pferde, Rehe, Schafe, die Kinder ergänzen meine Aufzählung: „Vögel! Läuse! Autos!“ Noch verstehe ich das böse Omen nicht, das sich damit schon bedrohlich über unsere Reise legt.
In Hamburg halten wir es erst für eine schräge Aussprache, aber es ist die korrekte: „Orrhus“, nicht „Aarhus“ wird die 300000-Einwohnerstadt formuliert.
Bente Rasmussen erwartet uns mit meinem Buch als Erkennungszeichen im Bahnhof, 10 Zentimeter Schnee liegen, als sie uns hinauf in den Holmevey fährt. Eine Streifenkarte gibt uns Frau Rasmussen für den Bus: „Voksen 2 Zoner 115 Kroner Midttrafik“, hier steige man hinten ein, das begriffen selbst die Kopenhagener nicht. Inzwischen arbeiten hier viele Busfahrer aus Deutschland. Vielleicht bin ich soetwas wie ein Busfahrer aus Deutschland, bloß als Autor. Aber kein schlechtes Leben, besser wäre es wohl nur als Busfahrer aus Dänemark.
Der Holmevey, an dem sich unsere Ferienwohnung befindet, stellt sich als recht laute Verkehrsstraße heraus, Homevey könnte Heimweh bedeuten, vielleicht aber auch eher Kopfweh oder Herzschmerz. Dafür ist ein Supermarkt namens Brugsen direkt gegenüber. Dort begehe ich einen folgenschweren Fehler und kaufe etwas, das Rygeost Salat heißt und für mich wie Quark aussieht. Es enthält 62% Skummetmælksrygeost, 11% planteolie und purløg. Ich kann hier getrost verkünden, dass ich noch nie vorher so etwas gegessen habe und sehr hoffe, in meinem ganzen Leben nicht noch einmal so etwas probieren zu müssen. Man stelle sich die Strümpfe eines unter Fußpilz leidenden Fußballspielers vor, der trotz täglichem Training seine Fußbekleidung seit einem halben Jahr nicht mehr gewaschen hat, sie sodann zwei Hunden eines Kaufhallenpunks als Halstücher umbindet. Nach einem weiteren halben Jahr wird aus diesen Strümpfen ein Sud gekocht, so schmeckte der Rygeost Salat.
Die Museen von Århus haben fast alle geschlossen, manche wegen Bauarbeiten, andere wegen privater Feiern. Immerhin kommen wir ins Moesgård Museum, die dortige 2000 Jahre alte Moorleiche sieht aus wie verflüssigt, die Knochen haben sich in Leder verwandelt. Es ist der in den 50er Jahren entdeckte Grauballemann, wobei lange trotz seines starken Bartwuches umstritten war, ob es sich nicht doch um eine Frau handelt. Diese Diskussion wird den vielen hübschen Däninnen nicht gerecht, die keinesfalls alle über stark ausgeprägte Gesichtsbehaarung verfügen. Durch Tomographie wurde inzwischen auch das Genital des Grauballemannes lokalisiert, und so kann man mit einiger Sicherheit von einem frühen Dänen ausgehen, dem erst das Bein gebrochen und dann die Kehle von Ohr zu Ohr durchgeschnitten wurde. Was er wohl angestellt hat? Keine angenehme Zeit, natürliche Todesursachen gab es, den Funden nach zu urteilen, so gut wie gar nicht, sondern nur Mord und Totschlag.
Angeschlossen in der Nebenscheune ist eine umfangreiche völkerkundliche Sammlung. Ob sie ihre Wikinger-Vergangenheit als „primitiv“ ansehen, oder ob es Zufall ist, dass die Kollektion hauptsächlich aus der sogenannten Dritten Welt stammt?
Ein grüner Raum ist Bolivien und eine Vitrine darin Evo Morales gewidmet samt Masken und Kult-Pullover. Eine Wand mit Objekten in rot, ein Hubschrauber aus Bast, mir gefällt die Anhäufung wunderbar.
Leider hat das Steno Museum wegen einer Privatveranstaltung geschlossen, wir können immerhin eine wunderbare Uhr mit Drehpendel im Foyer bewundern und ein Foucaultsches Pendel. Die Dame verweist uns weiter ins Naturhistorisk Museum, dort geht es um DANSKE DYR: Dänische Tiere.
Eine Weltkarte zeigt, welche Tiere für welche Länder stehen, während auf den britischen Inseln der Grævling, also der Dachs beheimatet ist, in Deutschland und Polen der Hirsch verortet wird und in Nordskandinavien Elch und Biber kreuchen, hat Dänemark nur den Muldvarp, den Maulwurf zu bieten. Aber zum Glück ist es nicht ganz so bescheiden, bemerken wir, als wir einen nicht enden wollenden Gang betreten. Hinter uns schließt der Museumswächter die Tür, er dreht den Schlüssel dreimal herum. Jetzt können wir nicht mehr zurück, und sehen die Bescherung, vor uns liegt ein fünf Kilometer langer Gang, rechts und links hinter Glas ausgestopfte Fische, Ratten, Mäuse, Feldratten, Fische, Wasserspitzmäuse und natürlich Maulwürfe.
„Ich will hier raus!“, sagt Lisa, Ella hat Tränen in den Augen.
Die Tür hinter uns ist zugesperrt, wir müssen weiter, wenn wir hier nicht zwischen ausgestopften Mäusen, Fischen und Ratten sterben wollen, müssen wir vorwärts.
„Kommt, Kinder, das schaffen wir!“ Aber auch mir ist bange und ein ungutes Gefühl schnürt mir die Kehle zu. Die Kinder schluchzen, während wir die Wanderung im Reich der toten Nagetiere beginnen. Einzige Abwechslung ist der Geruch, während die Nager muffig riechen, haben die Fische einen leichten Fischgeruch behalten.
Vielleicht ist Dänemark das traurigste Land der Welt, mir waren die ständig mit Tränen gefüllten wasserblauen Augen unerklärlich, jetzt beginne ich sie langsam zu verstehen. Fische, Ratten, Mäuse, Feldratten, Fische, Wasserspitzmäuse und natürlich Maulwürfe. Auch wir haben jetzt die dänischen Augen.
Ein ganzes Land hat nur Schädlinge, und das seit Jahrhunderten. Vermutlich aus ganz Europa angelockt durch das unvermeidliche Knäcke, vielleicht aus anderen Gründen hier. Fische, Ratten, Mäuse, Feldratten, Fische, Wasserspitzmäuse und natürlich Maulwürfe.
Kein Wunder, dass die größte Kulturleistung in Moorleichen besteht, wobei der Anteil der Dänen an diesen Mumien in der Ermordung der späteren Museumsattraktionen besteht, die Mumifizierung selbst wird vom Moor besorgt. Vielleicht die einzige Möglichkeit um zu verhindern, dass die Toten ein Fest für die Ratten werden?
Die Kinder sind tapfer, ich versuche es auch zu sein, während wir wandern zwischen toten Fische, toten Ratten, toten Mäusen, toten Feldratten, toten Fischen, toten Wasserspitzmäusen und natürlich toten Muldvarps: Maulwürfen.
In den 80er Jahren ging durch die DDR-Presse, dass in Dänemark ein bestimmter Politiker das Militärbudget komplett sparen wollte zugunsten eines Anrufbeantworters im Verteidigungsministerium, den Angriffslustige anrufen könnten und dessen Auskunft lauten sollte, dass Dänemark sich ergeben würde. Aber ein Blick in die dänische Tierwelt hätte auf Angreifer eine noch abschreckendere Wirkung gehabt.
Fische, Ratten, Mäuse, Feldratten, Fische, Wasserspitzmäuse und natürlich Maulwürfe. Manchmal denke ich, dass lebende Schädlinge noch einen höheren Unterhaltungswert hätten, manchmal denke ich, dass wir es nie aus diesen Gängen wieder an die frische Luft schaffen werden. Aber noch wandern wir, noch haben wir nicht aufgegeben, noch hat Dänemark nicht gewonnen.
Und zum Glück habe ich Verpflegung mit: Rygeost Salat. Wir werden es überleben.
ICE 381 Århus – Berlin, 29. III. 08
Monday, March 24, 2008
Auf der Suche, Wroclaw, Januar 2008.

Die Altstadt im pastellfarbenen Schmuck, ein Mädchen mit riesiger Sonnenbrille läuft auf hochhackigen Schuhen direkt auf das Rathaus zu, als sei der Markt ihr Laufsteg. Zwischen den Torbögen einer Einfahrt striegelt ein Kutscher sein Pferd vom Staub frei, im Hintergrund gräbt ein Restverwerter Mülltonnen um. Die Elisabethkirche schaut mir von hinten über die Schulter, während ich versuche, dem Gegenlicht eine Aufnahme abzutrotzen. Es ist kalt an diesem Januarmorgen, ich trage Unterhemd, Poloshirt und Fleecepulli unter dem Dufflecoat. In meiner Umhängetasche ruht ein Schwarz-Weiß-Photo, das drei junge Männer in langen, dunklen Mänteln zeigt, die eine weißhaarige Frau beschützend in ihre Mitte genommen haben. Die Frau hat sich bei einem der Männer eingehakt und sieht verlegen zu Boden. Noch im Hotel habe ich das Photo studiert, es direkt unter die Nachttischlampe gehalten und versucht, mir Einzelheiten zu merken, zum Beispiel die mit Eisen beschlagene Holztür im Hintergrund, die zwei Stufen, die zu ihr nach oben führen, das Kopfsteinpflaster davor, auf denen sechs Budapester und ein Paar Damenschuhe Halt gefunden haben. Ich habe das Photo dicht an meine Augen herangeführt, es gleich darauf aus einiger Entfernung betrachtet, ich habe es mir eingeprägt, und wenn ich jetzt mit Blick auf das Rathaus die Augen schließe, sehe ich es vor mir, als habe es sich in die Netzhaut eingebrannt. Auf der Rückseite des Photos hat jemand in unregelmäßiger Handschrift erklärt: Vor der Elisabethkirche, Breslau, ca. 1936.
Gut siebzig Jahre später drehe ich mich mit Blick auf das Rathaus nicht um, weil mich die Elisabethkirche enttäuscht hat. Keine ihrer alten, schweren Türen ist mit Eisen beschlagen, auch ist sie nicht von jenem Kopfsteinpflaster umgeben, das auf dem Photo ganz leicht glänzt, als habe es kurz zuvor einen Schauer gegeben. Drei Mal bin ich um die Elisabethkirche herumgelaufen, habe vergeblich nach den zwei Stufen gesucht, die zur Tür hochführen, habe trotzdem photographiert, weil ich der krakeligen Schrift auf der Rückseite des Photos mehr traue als meinen Augen. Den Toten etwas von den Schultern nehmen: Ob das geht? Ich bin in der ehemaligen Paradiesstraße gewesen, in der ehemaligen Menzelstraße, auf dem ehemaligen Blücherplatz und in der Einfahrt der ehemaligen Martinistraße 9. Ich habe nach Schulgebäuden gesucht, nach Ämtern, Wohnhäusern und Instituten. Ich habe nichts mehr gefunden. Eine eisenbeschlagene Kirchentür war meine letzte Hoffnung, eine Tür, die der Elisabethkirche gut stehen würde, die aber nicht einmal in eine der vielen steinernen Eingänge passt. Jetzt schaue ich auf die goldene Sonnenuhr an der Rathauswand, die seit fast fünfhundert Jahren ihren Dienst tut, und weiß: es gibt allein im Altstadtbereich von Breslau über zwanzig Kirchen, jede mit mindestens zwei Eingängen. St. Maria Magdalena, Bernhardiner- und Christophorikirche, Jesuiten- und Adalbertkirche, ich werde mich beeilen müssen. Ich habe nur noch zwei Tage Zeit.
Friday, February 15, 2008
Im Zimmer
Friday, February 01, 2008
...ein bisschen schämen...
Der Bauernhof ist zur einen Hälfte grau, die andere trägt dunkles Rot. Die Wetterseite hat ihren Putz verloren, dort trotzen jetzt Backsteine den Jahreszeiten. Hinter jedem Fenster eine Spitzengardine. Der dampfende Schornstein verrät einen Kohleofen oder Kamin, vor der Haustür sitzt ein Kind und starrt in den Schlamm. Seit Tagen hat es geregnet, der Boden kurz vor Legnica ist aufgeweicht, von Traktorrädern umgewühlt, im Hintergrund veranstalten Hühner ein Wettrennen. Immernoch zwei Stunden bis Wroclaw, ich habe nichts mehr zu tun. Der Zug kriecht seit Cottbus, Ruß aus seiner Diesellok schlägt sich in Birkenwälder, ab und zu heftet er sich an die Fassaden längst stillgelegter Bahnhöfe. In Cottbus haben drei Männer die Lok ausgetauscht, seit Cottbus gibt es keine Oberleitungen mehr, wir fahren durch das Zwanzigste Jahrhundert. An Dörfern vorbei, die aus einer Entfernung von mehreren Hundert Metern vor allem Gemäldemotive sind, in denen sich nichts regt, deren Bewohner ich nur vermuten darf, weil immer irgendwo ein Deckenlicht brennt. Wir fahren vorbei an Lichtungen, auf denen Rehe dutzendweise die Köpfe zusammenstecken, an Autowracks auf Feldwegen, einem ausgebrannten Linienbus mitten im Wald, dazu überall hölzerne, zum Teil abgeknickte Strommasten. Wir fahren vorbei am Verfall. Das Bahnhofsgebäude in Tuplice hat seine Fenster eingetauscht gegen Pressholz, in Zary steigen die Passagiere über Gleise in Richtung Ausgang. Wir passieren Fabriken und die mächtigen Wohnhäuser ehemaliger Fabrikbetreiber, kaum irgendwo hat sich ein Dach gehalten, und wenn ich unter Tausenden Lagerhallenfenstern mal eine intakte Scheibe sehe, möchte ich einen Stein hindurch werfen, um ein Bild zu vervollständigen. Der Schaffner ist schon mehrere Male durch die vier Waggons gelaufen, jetzt steht er im Durchgang von Wagen Zwei und Drei und fragt sich, warum man auf Langstreckenfahrten nicht mehr rauchen darf. Noch in Forst habe ich ihn am Bahnsteig paffen sehen, weit weg vom mit gelbem Klebeband gekennzeichneten Raucherbereich. Ich würde ihn gerne fragen, ob er auch etwas entgegenfährt, einer Liebe, eine Sehnsucht, einem Teller Piroggen, obwohl ich die Antwort schon kenne. Jeder von uns fährt zwangsläufig etwas entgegen, auch wenn es in meinem Fall mein längst verstorbener Vater ist, dessen Schatten ich in den Straßen der Altstadt zu finden hoffe, dessen Schritte Hall ich nachhören, dessen Straßenbahn ich fahren und dessen Schulweg ich ablaufen möchte. Ein bisschen schäme ich mich dafür, schon jetzt, knapp zwei Stunden vor Wroclaw.
Saturday, December 29, 2007
Tegeler Nabelschau
Monday, December 17, 2007
Betrachtung einer Gazelle
Sunday, December 16, 2007
Das Dorf ist nicht im Tag (Günthersleben/Thüringen)
Im alten Dorf stehen die alten Häuser. In ihren Höfen kreischen Kreissägen. Immer zerschneiden die Menschen etwas und das Kreissägengeräusch zerschneidet die Luft, weshalb nichts Ganzes mehr ist im Dorf. Auch das Dorf ist zerschnitten, in ein altes und ein neues Dorf. Im alten Dorf wohnen die alten, im neuen Dorf die neuen Menschen. Das Dorf ist voller zerteilter Wünsche. Im neuen Dorf werden Rasenmäher über alles Grüne geführt. Die Wünsche die dort ganz geblieben sind, werden hier gemäht. Und hinter den Zäunen auf langsam trocknende Haufen geworfen.
Abends um Acht ist der Tag fünfzehn Minuten im Fernsehen. Der Tag ist In- und Ausland, allein ein Drittel des Tages besteht aus Sport und Wetter. Das Dorf ist nicht im Tag.
In der Nacht zersurren im neuen Dorf die Glühbirnen der Straßenlampen die Luft, sie springen rosa an wenn es noch hell ist und werden bald darauf neonweiß. Sie machen ein Geräusch wie winzige Rasenmäher. Das alte Dorf liegt im gelben Licht alter Laternen. Diese Laternen sind still. Dafür bellen in den Gehöften die Hunde.
Die Wünsche Wintergarten und Fußbodenheizung haben keine Reihenfolge. Unsere Nachbarn und ihre beiden Wünsche führen mit Vater über den Zaun hinweg ein Gespräch. Der Zaun teilt unsere Gärten, die Reihenfolge der Fruchtwechsel jedoch ist gleich. An den Abbruchkanten der Beete war das Wetter lange nicht so gut.
Bei Westwind kann man die Autobahn hören. Nachts klingt sie wie das Meer. Anders als die vierzig Pappeln, die sich hinter unserem Haus aufreihen. Wie große betrunkene Männer schwanken sie im Wind und rauschen auch. Aber sie klingen nur nach Pappeln.
Saturday, December 15, 2007
Andalusien mit P. in mehreren Etappen.
Reisen ist Entkommen, in seltenen Fällen sogar irgendwo ankommen (in den besten). Andalusien ist mir dagegen immer eine Drohung gewesen. Aus Andalusien kamen Freunde, die dann kurzzeitig zu Feinden wurden, wenn sie erzählten, wie locker die Spanier seien, wie unbeschwert, wie sich die Deutschen (also sie selbst) ein Beispiel nehmen könnten an so viel Lebensfreude, ja müssten!, wie es doch endlich zu begreifen gelte, was Leben wirklich bedeutet: Fiesta und Flamenco und Tapas. Diese jungen Deutschen waren meist in Ferienanlagen gewesen, hatten am Strand und abends vor Disko-Theken gelegen, ‚Urlaub=Freiheit auf Zeit’ genossen. Warum nicht? Warum aber danach behaupten, man habe in nur drei Wochen ein Land durchschaut, wenn man nicht einmal das eigene begreifen kann? Nur den Stierkampf verachteten die deutschen Andalusienexperten, das sei Tierquälerei und mit der eigenen Hamsterhaltung nicht zu vergleichen. Auch nicht mit dem Zierhasen, der das USB-Kabel auf dem Gewissen hatte, zur Strafe auf den Balkon musste und dort bei 6 Grad Plus im Käfig erfror.

Teil 1, Jerez.
Es galt also, ein Vorurteil zu entkräften, als ich damals mit P. nach Spanien geflogen bin. Es ging darum, den ersten eigenen Blick gleich auch zum zweiten zu machen. Für 50 Euro mit Ryanair. Morgens um halb Vier in Ginnheim aufbrechen und bereits um kurz nach Neun spanischen Boden betreten, nach viel zu kurzer Nacht: Jerez. Vor dem Terminal ein Taxifahrer, der uns bis vor die Hoteltür brachte. Und in der Lobby die Rezeptionistin, die uns so unverschämt desinteressiert begrüßte: „Your room not ready. You wait ’til noon, Sir.“ Wie unsere Füße uns dann durch die alten Gassen von Jerez schleppten, wie keine Menschenseele auf der Straße war, außer ein Vater mit seinem kleinen Jungen, Hand in Hand auf dem Weg in die Kirche. Ein Blick auf die Uhr verriet damals: die beiden hatten verschlafen. Ich weiß noch, dass P. die Hosenbeine des Jungen kommentierte, sie endeten kurz oberhalb der Knöchel. P. sagte, dass man kaum etwas Unvorteilhafteres tragen könne, als zu kurze Hosen. Der Junge war keine zehn Jahre alt.
Nur ein milder Sonntag im November. Jerez so unfassbar leer, ausgestorben. Wir folgten Vater und Sohn zu ihrer Kirche. Das Haus Gottes innen mit Marmor verkleidet, Bänke und Kanzel aus Holz. Der Pfarrer hob ein paar Mal beschwörend die Hände, und als sich die Gemeinde nach einem Gebet wieder hinsetzte, blieben drei junge Frauen stehen. Sie trugen Kleider, an die Farben kann ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, wie selbstverständlich die Frauen stehen geblieben waren, mit durchgedrückten Rücken, so aufrecht, drei unter hunderten Gläubigen. Rebellen, Mahnende, Sünder, ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass wir noch zwei Stunden durchhalten mussten, bis wir unser Zimmer beziehen konnten. Als der Pfarrer später das Weihrauchfass an einem langen Seil durch das Kirchenschiff schwenkte, wurde mir schlecht.

Wie wir auf dem Platz in der Innenstadt doch noch ein Frühstück bestellt haben, unweit der Calle Francos, obwohl mir schlecht war von zu wenig Schlaf. Wie der Kellner keine Fremdsprache beherrschte und es mir das erste Mal unangenehm war, nicht Spanisch zu sprechen. Wir gestikulierten uns ein Frühstück: frisch gepresster Orangensaft, Milchkaffee, Schinken-Käse-Baguette. Ein Touristenmenü, für das wir dankbar waren, bis wir am Ende 14 Euro dafür bezahlen sollten.
Pünktlich um 12 im Hotel, das renoviert wurde, in kurzen Abständen übertrugen die Wände Bohrgeräusche bis unter mein Kopfkissen, und während P. Schlaf nachholen konnte, als sei Baulärm die Voraussetzung dafür, dachte ich über modernes Reisen nach. Über das Sitzen vor dem Computerbildschirm in meiner Ginnheimer Wohnung. Darüber, wie einfach es war, mit ein paar Bewegungen der Maus zwei Wochen Andalusien zu planen, ohne ein Reisebüro zu betreten. Über Wikipedia und die vielen Fakten über eine Region, die es nun zu beglaubigen galt.
Am späten Nachmittag tranken wir Kaffee in einer Bar in Bahnhofsnähe. Ein Fernseher zeigte Richard Chamberlain und eine noch sehr junge Sharon Stone. Beide planschten in einem Kochtopf und sollten gegart werden, Eingeborene führten einen Freudentanz auf. P. und ich saßen währenddessen auf Barhockern und sahen den Betreibern des Cafés beim Fernsehen zu. Auf dem Weg waren wir niemandem begegnet, auch in der Bar außer uns keine Gäste. November war kein Reisemonat, trotz Ryanair, trotz Temperaturen von über 20 Grad, trotz Sonnengarantie durch die Atlantikhochs, die sich stets über dem Südwestzipfel Spaniens festsetzen und für eine Regenknappheit sorgen, die in wenigen Jahrzehnten eine Wüstenbildung nach sich ziehen wird. Als Richard Chamberlain und Sharon Stone nach einer Befreiungsaktion aus dem Topf kippten, lachte der Kellner laut auf. Ich konnte seinen Oberkiefer sehen: Jeder zweite Zahn fehlte.
Teil 2, Cadiz.
Wir sitzen im Zug nach Cadiz. Ich habe mein Tagebuch auf den Knien und halte die braune Landschaft fest, die Steppe und die Betonsärge nie fertig gestellter Häuser. Im Abteil große Hitze, wir haben die Sakkos ausgezogen und das Fenster geöffnet. Dahinter jetzt verfallene Industrieanlagen und Olivenplantagen im Wechsel, grün nur die Rebstöcke für den Sherry, die vom Westwind mit Meeresfeuchtigkeit versorgt werden. Überall Bewässerungsanlagen, hier hat es seit fast einem Jahr nicht mehr geregnet. Erster Halt in Puerto de Santa Maria. Doch von einem Hafen ist nichts zu sehen, stattdessen am Ortsausgang ein McDonalds-Schild hoch oben über den kleinen Häusern. Parallel zu den Bahnschienen die Schnellstraße, vorbei an Salzanbaugebieten, neben einer Blechhüttensiedlung plötzlich eine Landebahn und eine einzelne Cessna.

Nach vielen Stopps schließlich die Endhaltestelle: Cadiz. Wir folgen den Passagieren aus dem Bahnhof hinaus direkt in die Altstadt. Wir laufen ohne Orientierung bis auf einen großen Platz. Dort spricht uns ein Engländer an, Tourist wie wir. Er zeigt auf ein weißes Gebäude und sagt, dort sei Trafalgar gestorben, das müssten wir uns ansehen. Dann geht er weiter. Wir steigen stattdessen die Stufen eines Kirchturms nach oben. Von dort Blick über die Dächer einer völlig weißen Stadt. Auf einem Nachbardach pinkelt ein Hund gegen einen Steinhaufen.

Ich frage mich, wer den Hund auf das Dach gebracht hat und wie er von dort wieder runter kommt. Das Gefühl unendlicher Fremde, dabei sind es nur knappe drei Flugstunden bis hierher. Viele der Häuser in Cadiz sind stark verfallen, man hat in hundert Jahren nur wenig renoviert, höchstens den weißen Kalk erneuert. Gefühl einer Zeitreise, obwohl hinter manchem Schaufenster sich Designerklamotten perfekt um die schlanken Körper der Plastikmannequins legen. Die Straßen der Altstadt sind für Touristen gestaltet, hinter einem kleinen Steintor versteckt sich eine riesige Massimo Dutti-Filiale. Ich kaufe ein Paar braune Schnürschuhe.
Nach dem Spaziergang durch die Altstadt erreichen wir die Promenade auf der Befestigungsmauer. Unter uns schlägt das Meer mit Wucht gegen Felsen an, Gischt spritzt bis zu uns nach oben. In einem kleinen Park die mächtigen Stämme zweier Gummibäume. Im Reiseführer steht: 6m Durchmesser, die Bäume seien der Stolz der Einwohner. Aber im Reiseführer steht auch, dass Cadiz die älteste Stadt Europas sei, dabei beansprucht die griechische Stadt Argos diesen Titel. Wie immer möglich, dass man Reiseführern misstrauen muss. Beim Blick auf die Stämme der Gummibäume kommen mir deshalb Zweifel, ob ihr Durchmesser wirklich 6 Meter beträgt. Das Erzählen ist eben ein Erzählen.

Teil 3, Bodega Tio Pepe, Jerez.
Hi! Willkommen bei Gonzales Byass! Mein Name ist Markus, ich leite die deutschsprachige Tour. Um 2 Uhr geht’s los, ok? Die große Tour kostet 13,50 Euro, dafür kann man zum Schluss noch ein paar Brände in unserem Shop probieren. Das lohnt sich. Also dann zwei Tickets? Wir können sofort anfangen, kommt eh niemand mehr. November ist hier tote Hose. Woher kommt ihr? Ich bin aus Bayern und hier sozusagen hängen geblieben. Ich hab in Cadiz studiert, kennt ihr Cadiz? Ist ne tolle Stadt zum Studieren, da gibt’s ganz viele junge Leute, Kneipen, Geschäfte. Anders als hier in Jerez, hier ist nichts los. Aber meine Freundin lebt in Jerez, was will man machen. Die ist gewissermaßen der Grund, warum ich in Spanien geblieben bin. Große Liebe, kann man schon so sagen. Wir haben uns beim Studium kennen gelernt. Sie hat fertig studiert, ich nicht. Aber ich hab immerhin den Job hier bei der Bodega, damit kommt man gut über die Runden. Sie arbeitet derzeit nicht. Wir wohnen bei ihren Eltern, müssen also auch keine Miete bezahlen. Mieten sind hier schrecklich teuer, obwohl einem nur Bruchbuden angeboten werden. Wisst ihr, was es heißt, wenn dich eine Spanierin ihren Eltern vorstellt. Das heißt irgendwann Hochzeit. Kann also sein, dass ich für immer in Jerez bleibe. So, hier, wir nehmen die Bahn. Die fährt uns einmal durchs Gelände. Das alles abzulaufen, würde auch viel zu lange dauern. Ich fang dann mal an. Und wenn ihr Fragen habt, unterbrecht mich einfach. Gonzales Byass wurde 1835 von Manuel María González Angel gegründet und ist noch heute in Familienbesitz. 1860 stieg der englische Unternehmer Robert Blake Byass, zu der Zeit schon Händler für Sherry in England, ins Unternehmen ein. So kommt es zum Doppelnamen Gonzales Byass, der bis heute Bestand hat. Das Unternehmen zählt 600 Mitarbeiter, so genau weiß ich das auch nicht, einer davon ist zum Beispiel Luis da drüben. Hey Luis! Que pasa, hilador? Momentan sind nur etwa zehn Arbeiter auf dem Gelände. Das variiert sehr stark. Riecht ihr eigentlich den Alkohol? Hier stinkt’s immer nach Stoff. Da kann man schnell zum Alkie werden. Der berühmteste Sherry, den sie hier machen, heißt Tio Pepe. Den kennt ihr bestimmt. Tio heißt Neffe. Neffe Pepe: saublöder Name für einen Wein, aber egal. Der soll ja auch nicht gut klingen, der soll schmecken. Und Wirkung zeigen. Vor allem auf die Frauen, nicht wahr? In Andalusien gibt’s die schönsten Frauen der Welt, das sag ich euch. Habt ihr schon welche gesehen? Leider sind die meisten hier streng katholisch und sehr schwer rumzukriegen. Schon allein deshalb liebe ich meinen Sherry, der lockert die Frauen auf. In diesen ganzen Hallen lagern Tausende Fässer, jede Halle für einen bestimmten Sherry. Wenn man hier lang genug arbeitet, kann man die verschiedenen Hallen allein am Geruch unterscheiden. Mein Job hier ist gut, besonders im Sommer. Wenn es draußen über 40 Grad hat, ist es in den Hallen angenehm kühl. Egal, das wollt ihr ja alles gar nicht wissen. Also: José Ángel de la Peña ist jedenfalls der Erfinder des Tio Pepe. Die Holzfässer für den Sherry werden 40 Jahre lang benutzt, danach ausgetauscht. Dann sind sie zu alt. Wie die Frauen, die tauscht man auch nach 40 Jahren aus, oder? Es gibt allerdings einen Unterschied: Die Fässer werden nach 40 Jahren von Liebhabern gekauft, die sie sich in den Garten stellen, die Sherryfässer wird man auch nach 40 Jahren noch gut los. Habt ihr schon Andalusische Frauen kennen gelernt? In der Jugend sind die bildschön, aber im Alter werden sie zu dicken Mamas und interessieren sich nur noch für Gott. Am Freitag ist hier eine Party, da kann ich euch ja mal ein paar Mädchen vorstellen. Sprecht ihr Spanisch? Die Mädchen verstehen nämlich keine Fremdsprachen. Diese Innenhöfe hier kann man übrigens auch für Veranstaltungen mieten. Im Sommer ist das angenehm, weil man unter dem Efeu nicht so schwitzt. Alto! Alto! Wir halten hier mal an. In der Halle da drüben gibt es nämlich ein paar sehr berühmte Fässer, auf denen lauter Promis unterschrieben haben. Kommt mal mit. Hier hat zum Beispiel der spanische König unterschrieben. Da hinten John Malcovich und Ayton Senna. Und hier drüben Christian Ude, der Münchner OB. Kennt ihr den? Den hab ich damals persönlich geführt. Hier gibt’s auch noch Francos Fass, den hab ich natürlich nicht persönlich geführt. Das Fass von Franco ist besonders gesichert, weil man recht stolz auf die Unterschrift ist. Das ist kugelsicheres Glas, da kommt man nicht ran. So, jetzt gehen wir mal Sherry trinken, oder? Deshalb seid ihr ja sicher hier. Nicht wegen der blöden Sherry-Geschichte, oder? Ihr könnt so viel Sherry probieren, wie ihr wollt. Dann werdet ihr locker, genau wie die andalusischen Mädels. Vorn im Eingangsbereich arbeitet Marcella. Die ist aus Italien, bei der ist das nicht ganz so schwer. Oder seid ihr am Ende schwul? Nicht, dass ihr mich falsch versteht: Ich liebe meine Freundin wirklich sehr. Aber wenn man hier lebt und jeden Tag so viele schöne Frauen sieht, wäre man doch blöd, nicht ein bisschen zu flirten. Das Dumme ist, dass ich noch immer kein Rezept gefunden habe, wie man diese katholischen Mädels knackt.
Fortsetzung folgt…