Wednesday, October 24, 2007

Tote Blätter & Prückelstrafe



M. und ich sitzen in der Sehnsuchtsmaschine Auto, ein Begriff, den wir auf der Autobahnraststätte Mondsee für uns geprägt haben, bei der ersten Melange nach Überschreiten der österreichischen Grenze. Der vernebelte Mondsee hat uns melancholisch gestimmt, die Verbesserung von Mitteleuropa scheint unmöglich. Wir befahren den Höhepunkt jeder Reise nach Wien, das heruntergekommene Stück Westautobahn mitten im Wienerwald, zwischen Pressbaum und der Hauptstadt. Platzregen setzt ein. Wir hören Yves Montand, Les feuilles mortes, auf Kassette, eine Live-Aufnahme, volle Lautstärke. Die Weltbühnenarbeiter schieben prächtige Herbstkulissen an uns vorbei und werden verlässlich dafür sorgen, dass all die gelben und roten und braunen Blätter an den Bäumen bald tot sein werden. Bitte noch einmal, noch einmal, kreischt M., als der tosende Applaus abklingt, und spult zurück zu der Stelle, wo eine männliche Stimme aus dem Publikum das soeben gehörte Lied einfordert, und Yves Montand sagt trocken: Ja. Platzregen setzt aus. Runterschalten, vierter Gang. Die Autobahn mündet im Stadtverkehr, ohne Abfahrt. Abbremsen, dritter Gang. Dann die erste Ampel seit vielen Stunden, rot. Die Sehnsuchtsmaschine bleibt stehen.

Am nächsten Tag genieße ich die lang ersehnte Café Prückelstrafe. Wo in der Welt könnte man schöner schlecht behandelt werden als in einem Wiener Kaffeehaus?

1 comment:

s|s said...

Seltsam wie hartnäckig sich das Klischee der schlechten Behandlung in Wiener Cafés immer noch behauptet. War ich im Glück, bis auf ein sehr amüsantes Mal, noch nie wie ein Straßenköter getreten worden zu sein, nur weil ich etwas Extra-Milch bestellt hatte? Oder liegen die Definitionen der "Schlechten Behandlung" so weit auseinander, dass ein eher schweigsamer Ober in Wien miese Noten bekommt, nur weil unser Stadtkulturgefühl uns vorgaukelt, die Sau hasst mich, meine Familie, meine Haustiere UND seine eigene Familie und seinen Job und sein Bärtchen?

Ich jedenfalls empfehle Folgendes, je nach der individuellen Handhabung des sozialen Unverhaltens der Service-Kräfte:

1. Stört die "schlechte Behandlung", einfach nachdrücklich aufstehen und das Kaffeehaus lamentierend verlassen. Die Tür zuknallen. Dann, ein anderes Kaffehaus finden, man munkelt, Wien stellt drei-vier weitere zur Verfügung.

2. Möchte man "schlecht behandelt" werden", sollte man das genießen wie Omas Wintersonne genießen, mit Respekt und stiller sexueller Erregung. Oder aber, man sollte andere Worte für die Erfahrung finden. ZB: "Der Ober servierte mir den Einspänner auf eine Art und Weise, DIE EIN ANDERER GAST ALS DURCHAUS BELEIDIGEND und für den Vorgang des "Bedienens" als unangebracht empfunden hätte. Mir jedoch gefiel das, denn ich trug wirklich eine bescheuerte Krawatte, sie hatte nicht nur den abschätzigen Blick des Obers verdient, sondern auch einen Kaffeefeck."

3. Geht man aber in ein Wiener Kaffehaus bereits mit der Erwartung: "Oh Gott allmächtiger, ich gehe in ein Wiener Café, gleich werde ich angepupst", dann wird das wohl auch passieren. Man wird sich hinsetzen und ein Oberoberpopo (kein sic!) wird am Horizont auftauchen und alles kurz und kleinpupsen. Nicht verzagen! Meine Empfehlung: die "schlechte Behandlung" nicht von vorne herein annehmen. Ganz in Gegenteil! Das Kaffehaus lachend und gutgelaunt betreten (gespielte gute Laune mag auch helfen), nachdem man sich in einer zweimonatigen Hypnose-Behandlung all die Wucherungen des Vorurteils gegen Wiener Service-Kultur wegunterbewußtseiniert hat. Ich verspreche: der Ober wird sich ähnlich benehmen wie in Freiburg, nur der Kaffee wird weiterhin unverschämt teuer bleiben.