Thursday, October 26, 2006

Lagos. Der große Kontrast


Wieder in Lagos. Erneut nach einem abenteuerlichen Inlandsflug. Schon beim Flug nach Abuja habe ich den Sicherheitshinweisen sehr aufmerksam zugehört, insbesondere weil diese erst nach dem Abheben erfolgten. Wobei Abheben eigentlich nicht das richtige Wort ist; die Maschine zog vielmehr steil wie eine Concorde in den Himmel und legte dabei gleich einen U-Turn hin, so dass wir einige Sekunden schräg und bleich in den Sitzen hingen. Aber eigentlich ist es ja pragmatisch: die meisten Abstürze gibt es beim Start, also lohnt es sich, erstmal abzuwarten, ob man überhaupt heil in die Luft kommt.

Auf dem Rückflug nun zu meiner großen Überraschung osteuropäische Stewardessen, die zu meiner noch größeren Überraschung sogar Sicherheitshinweiskarten der Balkan Holiday Air mitgebracht hatten, die zwar für einen Airbus 320 erstellt worden waren, aber auch in der kleinen Virgin-Fokker durchaus zu gefallen wussten. Als Bordspeise wurde eine große Plockwurst in einem sehr dicken Teigmantel serviert. Was genau die warnende Aufschrift „only to be eaten on board!!!“ auf der Verpackung bedeutete, wurde mir erst klar, als ich bei Beginn des Landeanflugs erst ein Drittel verzehrt hatte. Vermutlich wird der Rest jetzt weiterverarbeitet.

Der Anflug auf Abuja bei Nacht war wie eine Landung im nichts. Wir senkten uns in eine schwarze Fläche, keine Lichter, kein nichts. So ähnlich muss sich eine Notwasserung anfühlen (jedenfalls vor dem Notwassern). In Lagos dagegen ist es genau umgekehrt, das Landen in Lagos ist wie das Landen in einem großen Hühnerstall, man fliegt zehn, zwanzig Minuten nur über besiedeltes Gebiet. Aber Lagos ist natürlich in fast allem das Gegenteil von Lagos (bis darauf, dass es in beiden heiß, stickig und teuer ist und man überall in Nigeria nur das beklagenswerteste Essen zu kaufen gibt).

Wo es in Abuja stets eine Straßenspur zu viel gibt, gibt es in Lagos stets zwei zu wenig. Wo es in Lagos an Platz und Atemluft mangelt, mangelt es in Abuja an Menschen und Geschäften. In den Siebzigern haben sie beschlossen, eine neue Hauptstadt auf dem s.g. Reißbrett zu kreieren, das war damals en vogue, Geld fehlte auch nicht, Ölkrise sei Dank. Also Abuja. In fünfzehn Jahren wollten sie eine neue Weltmetropole schaffen, zudem das bereits kollabierende Lagos von Verkehr entlasten. Sie haben sich einen Ort ziemlich genau in der Mitte des Landes ausgesucht, gut zu erreichen aus allen Richtungen, zudem vergleichsweise neutral zwischen den gegensätzlichen Regionen des Südens und Nordens. Ideale Voraussetzung für eine Totgeburt. Als gerade die ersten Gebäude hochgezogen waren, kamen die Achtziger, die Ölpreise sind abgesoffen und die nigeranische Volkswirtschaft gleich mit. Die Bauarbeiten dauern noch an; mittlerweile ist wieder (vorläufig) Geld vorhanden, überall stehen Kräne. In den günstigeren Konjunkturzyklen hat man sich ein grandioses Fußballstadion, eine gläserne Zentralbank und einige andere monumentale Konstruktionen geleistet, darunter eine äußerst bizarre Kirche. In den Tiefphasen hat man die Arbeiten in der Mitte abgebrochen und entweder halbfertig stehengelassen oder wieder runtergerissen. Das Flair ist un-afrikanisch: es fehlt an Chaos, Staub, Wellblech und verrottenden Fassaden.

Von alledem gibt es mehr als genug in Lagos. Lagos hat mich wie noch keine Stadt zuvor, besser: wie noch kein Moloch zuvor gleichzeitig abgestoßen und fasziniert. Lagos ist in weiten Teilen die Definition einer ruinierten, von allen s.g. guten Geistern verlassenen Stadt: der Grad des Verfalls, die einfach der Verwahrlosung preisgegebenen oder jämmerlich in sich zusammengefallen Behausungen (wohlgemerkt nicht Wohnhütten, sondern zehnstöckige Geschäftshäuser!), die zerstört und verrostet am Wegesrand abgestellten Vehikel, die hitzköpfigen und über alles und jeden in Streit ausbrechenden Lagosianer, und dazwischen immer wieder die kleinen Symbole der Dekadenz und der hochfliegenden Pläne: die längste Brücke Afrikas, die sich bogenförmig von einer Insel zur nächsten zieht, überall Mercedes und BMWs, Hightech-Malls, die nationale Raumfahrtagentur, stolze Werbetafeln mit Ankündigungen vom Schlage „From Third World to First World by 2020“, usw. usf.

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