Tuesday, July 15, 2008

Reine Existenz.



















Als Kind habe ich hier einen kleinen Rochen gefangen. Der Rochen war zunächst eine seltsame Scheibe knapp über dem Meeresgrund, die sich langsam und mit einer Art Flügelschlag fortbewegte, kurze Zeit später dann ein dunkelgraues Knäuel in meinem Kescher. Ich brachte ihn stolz an den Strand, wo er von Hotelgästen bestaunt wurde. Den Rochen zu fangen, war einfach. Ich hatte ihm den Kescher vor die Nase gehalten, er war hinein geschwommen. In Sperlonga war immer alles einfach. Hier konnte man Bocciaturniere gewinnen, Wasserskifahren im Hotelpool lernen, mit dem Maler Victor Koulbak zum Frühsport gehen. Die sechzehnjährige Flavia, die sich als Tochter von Ornella Muti hätte ausgeben können, wollte mit dem zwölfjährigen Benjamino Händchen halten, der das alles gar nicht verstand, der am liebsten weggelaufen wäre zu seinem Freund Luca. Luca, der heimlich Samuraihefte las, Pink Floyds ‚The Wall’ als Bibel bezeichnete und davon sprach, später einmal Surfer vor Big Sur werden zu wollen. Ich zweifelte damals nicht daran, dass er bald vor der Küste Kaliforniens Erfolge feiern würde.



















Im Hotel gab es keine Telefone, keine Minibar, keine Fernseher. Es gab auch keine Klimaanlagen oder Fliegengitter, es gab Betten für knapp 100 Gäste und einen Steinfußboden, der auch dann noch die Füße kühlte, wenn das Thermometer im Inneren des Betonbaus weit über 30 Grad anzeigte. Nachts musizierte eine Grillenarmee, während unsere Badesachen auf dem Balkon trockneten. In der Ferne bellte immer irgendein Hund, und morgens, bei Sonnenaufgang, krähte ein alter Hahn das Personal in die Großküche und uns unter die Duschen. Der Schweiß der Nacht musste abgewaschen werden, bevor wir, die Männer in Leinenanzügen und die Frauen in Sommerkleidern, im Frühstückssaal einander zunickten. Wir, das waren Goldhändler, Anwälte, Literaturprofessoren, ein Dealer aus Berlin-Kreuzberg namens Mohrchen, Kranbauer, Künstler, ein Hutmacher aus Florenz, Journalisten und schier unendlich viele Kinder, die sich noch zu benehmen wussten, am Frühstückstisch leise sprachen und höflich um Erlaubnis baten, wenn sie aufstehen und an den Strand gehen wollten.



















Die Küstenstadt Sperlonga lag am Strandende auf einem Felsen, im Mittelalter als Festung erbaut und von den Bewohnern kalkweiß gekleidet. Nach Sperlonga konnte man nicht mit dem Auto fahren, man musste unendlich viele Stufen in engen Gassen nach oben steigen. Auf dem Marktplatz zwei kleine Cafés, in einem von ihnen hat Max Frisch im Jahr 1952 gesessen und eine Postkarte an Verleger Unseld geschrieben. In Sperlonga, freute sich Frisch damals, sei ihm endlich eine ‚reine Existenz’ möglich.
In über fünfzig Jahren hat sich Sperlonga verändert. Am Strand wurde ein Hotel ans nächste gestellt, und obwohl die Liegestuhlreihen noch an einer Hand abzuzählen sind, ist ‚reine Existenz’ nur möglich, wenn man zufällig das eine Hotel findet, das sich am Ende einer langen, sandigen Auffahrt versteckt. Ein Hotel, in dem es auch heute noch keine Klimaanlage gibt, keine Telefone, keinen einzigen Fernseher. Um 23 Uhr schließt der Portier ab und löscht das Licht in der Empfangshalle. Auf den Zimmern wird dann geflüstert, weil die Wände dünn sind und man die Nachbarn nicht stören möchte. Das Hotel hat seinen vierten Stern verloren, weil Reisende heute einen anderen Komfort erwarten, die Preise wurden hingegen erhöht. Wenn man ‚reine Existenz’ bieten kann, ist kein Preis zu hoch.

1 comment:

suna said...

sehnsucht